Eine Stunde hat Recep Tayyip Erdogan am frühen Nachmittag für Angela Merkel (CDU) Zeit. Das ist nicht lange. Angesichts des engen Zeitfensters überrascht der türkische Präsident, der kein Englisch spricht, die Kanzlerin zumindest mit einer Geste des Entgegenkommens: Anders als bei bisherigen Begegnungen üblich, besteht er nicht darauf, zu Ende zu sprechen, bevor sein Übersetzer beginnt.
Heißt: Merkel muss sich die gefürchteten länglichen Monologe Erdogans nicht gleich zwei Mal anhören: einmal auf Türkisch und dann noch auf Deutsch. Die Kanzlerin, die internationale Verhandlungen gerne auf Englisch oder mit schneller Parallelübersetzung führt, hasst diese altmodische, ineffiziente Art der Diplomatie.
Die Geste ändert freilich nichts daran, dass Erdogan in Istanbul die Regeln bestimmt. Er ist der Gastgeber. Nicht nur der von Merkel, sondern der der ganzen Welt.
Das ist wenigstens die Idee des World Humanitarian Summit, den UN-Generalsekretär Ban Ki-moon erdacht hat, um "an die humanitären Prinzipien zu erinnern". Es sollen diesmal keine Hilfsgelder eingeworben werden, sondern Mechanismen verabredet werden, um besser auf Krisen reagieren zu können.
Die ganze Welt war geladen, aber die deutsche Kanzlerin ist neben Erdogan die einzige Führerin eines G-20-Landes, die tatsächlich erschienen ist. Der Brite David Cameron und die norwegische Regierungschefin Erna Solberg haben in letzter Minute noch abgesagt. So sind der Scheich von Kuwait und der Präsident von Mali neben Merkel die Topgäste. Papst Franziskus hat immerhin eine Videogrußbotschaft geschickt.
In Gedanken ist Merkel schon zuvor bei Erdogan
Neben Merkel im Hauptprogramm der Konferenz nahmen auch noch ihr Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und ihr Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) an sogenannten Side-Events (Nebenveranstaltungen) teil. Keine Regierung der Welt – außer den gastgebenden Türken – ist damit so hochrangig vertreten wie die deutsche. Seit die "Bekämpfung von Fluchtursachen" im vergangenen Herbst zur Priorität der große Koalition wurde, unterstützt Deutschland mit großem Eifer die Reformvorschläge der UN zur Krisenprävention.
Am "runden Tisch" der Spitzenpolitiker klingt die Kanzlerin dann allerdings so wenig engagiert, dass man das Gerücht, sie strebe den Posten einer UN-Sekretärin an, nicht mehr glauben mag: "Es gibt keine nachhaltige Entwicklung ohne Frieden, aber auch kein Frieden, wenn keine nachhaltige Entwicklung folgt."
Im Kopf ist Merkel erkennbar woanders – vielleicht bei Erdogan. Doch der hat erst später Zeit. Um 14 Uhr hat sie endlich ihren Termin. Diesmal bittet Erdogan nicht in einen Palast, sondern in einen schlichten Nebenraum des Kongresszentrums, in dem die UN-Konferenz stattfindet. Zuerst sollte das Treffen im Raum "Hamidiye" stattfinden. Doch so hieß eine osmanische Reitereinheit, die am Genozid an den Armeniern 1916 beteiligt war.
Der Bundestag wird diesen Völkermord in der kommenden Woche zum ersten Mal einen solchen nennen – sehr zum Ärger Erdogans. Wird, um solche Assoziation zu vermeiden, in letzter Sekunde der Raum gewechselt?
Gilt der Flüchtlingsdeal jetzt oder nicht?
Tatsächlich treffen sich Erdogan und Merkel dann in einem anderen Raum, mit dem unverfänglichen Namen "Yildiz 1". Aber zuerst muss Merkel warten: 15 Minuten lang. Vor ihr hat noch Mark Rutte, der niederländische Ministerpräsident und amtierende EU-Ratspräsident, einen Erdogan-Termin.
Jetzt also Merkel. Es ist schon das vierte Treffen der beiden seit dem Ausbruch der Flüchtlingskrise. Auß
Doch Davutoglu war auf türkischer Seite der Architekt des EU-Türkei-Abkommens. Er hatte versprochen, alle Flüchtlinge zurückzunehmen, die über die Ägäis nach Griechenland übersetzen, wenn die EU im Gegenzug dafür endlich Visumfreiheit für türkische Staatsbürger gewährt. Dafür wiederum sollte die Türkei allerdings 72 Voraussetzungen erfüllen, technischer, aber auch politischer Art. Und genau das hat Erdogan erklärterweise nicht mehr vor: Die Terrorgesetze, mit denen auch Intellektuelle und Journalisten, ja sogar Parlamentsabgeordnete verfolgt werden, sollen bleiben, wie sie sind.
Die naheliegende Frage lautet logischerweise: Gilt der Flüchtlingsdeal trotzdem weiter? Die Kanzlerin hofft selbstverständlich darauf. Immerhin war die Visumfreiheit nicht der einzige Preis, den Erdogan dafür aufgerufen hat, niemanden mehr in die Boote der Schlepper zu lassen. Sechs Milliarden Euro will die EU in den kommenden Jahren für Flüchtlinge in der Türkei ausgeben. Außerdem stehen immer noch die "freiwilligen Kontingente" im Raum, die im EU-Türkei-Abkommen erwähnt sind, aber nie konkret beziffert wurden.
Im Falle einer neuen Eskalation des syrischen Bürgerkrieges und einer neuen Massenflucht in die Türkei darf Erdogan darauf hoffen, einen Teil dieser Flüchtlinge direkt an Deutschland und einige andere EU-Länder weiterzuschicken. Mit Erleichterung hatten deutsche Diplomaten am Morgen im britischen "Guardian" einen Gastbeitrag von Erdogan gelesen, in dem er das EU-Türkei-Abkommen lobend erwähnt. Andererseits drohen Berater des Präsidenten auch am Rande des UN-Events wieder damit, alles platzen zu lassen. Ganz sicher kann sich die Kanzlerin also nicht sein.
Kanzlerin weicht Frage nach Flüchtlingsdeal aus
Nach dem Gespräch wirkt sie nicht zufrieden. Sie berichtet zuerst von einem Treffen mit Vertretern der Zivilgesellschaft, das sie am Vorabend hatte, und macht sich deren Sorgen explizit zu eigen: "Wie kann eine lebendige Demokratie erhalten bleiben oder entstehen?" Sie habe "sehr offen" mit Erdogan gesprochen und "tiefe Besorgnis" ausgedrückt. Das ist in der Sprache der Diplomatie sehr deutlich: "Die Fragen sind nicht vollständig geklärt, die ich in diesem Zusammenhang hatte."
Mit diesem Besuch hat Merkel also zu den offenen Worten zurückgefunden, die ihr Verhältnis zu Erdogan viele Jahre geprägt hatten. Bevor sie sich in der Flüchtlingskrise einige Monate lang alle Kritik an dem Autokraten gespart hatte.
Zu Merkels neuer Deutlichkeit gehört auch die Erkenntnis, dass es die ab dem 1. Juli geplante Visumfreiheit für die Türkei nicht geben wird: "Nach Maßgabe der Dinge werden nicht alle Bedingungen erfüllt", sagt Merkel. Der Frage, ob damit der ganze Flüchtlingsdeal gescheitert sei, weicht Merkel aus: "Wir haben über das Naheliegende gesprochen, nicht über alle Facetten." Sie habe immer noch "den Eindruck", dass das Abkommen in beiderseitigem Interesse sei und dass man es "schrittweise umsetzen" müsse.
Diese Sätze werden im deutschen Konsulat in Istanbul gesprochen, wo Merkel vor die Kameras geht. Aber sie wählt dafür bewusst nicht die repräsentative Seite der Raumes. Dort nämlich hängt ein besonderes Porträt von Wilhelm II. Es zeigt den deutschen Kaiser mit türkischem Fez und in der Uniform des Osmanischen Reiches. So wollte Merkel auf dieser Reise augenscheinlich nicht wirken.
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