Das Album, das Bob Dylan sich zum 75. Geburtstag schenkt, beginnt mit "Young at Heart". Wenn du im Herzen jung bleibst, singt er, werden Märchen wahr. Nicht er hat das geschrieben, sondern Carolyn Leigh. Gesungen hat es Frank Sinatra, 1953, als die Popmusik noch arbeitsteilig hergestellt wurde, von Dichtern, Komponisten, Interpreten, bis Bob Dylan alt genug war und das Ideal singender Autoren etablierte. Damals, vor gut fünfzig Jahren, hieß es, Dylan sei schon immer alt gewesen in der Stimme und der Seele. Vielleicht bleibt, wer früher alt wird, länger jung. Sein jüngstes Album jedenfalls feiert die Hymnen seiner Jugend: Wie vor einem Jahr auf "Shadows in the Night" verwandelt er sich auch auf "Fallen Angels" (Columbia) wieder in einen erkälteten Sinatra und die Band in ein Bordellorchester mit Pedalgitarre, Bratsche, Rührbesen und Mandoline. Er meint das sehr ernst, der größte Songschreiber Amerikas, wenn er das große Songbuch von Amerika nicht einmal mehr interpretiert. Er spielt es einfach für sich selbst. Nach all den Songs, die er ein Leben lang für uns gespielt hat.
"The Times They Are a-Changin'" (1964)
Man muss Bob Dylans Mut bewundern: Ein wirrer Mann mit wirrem Haar, wirrem Blick und einer Quäkstimme, die klingt, als nöle jemand durch eine Gasmaske vor sich hin. Und er tritt tatsächlich vor zahlendem Publikum auf! Ästhetisch kaum erträglich. Aber noch schlimmer sind seine Fans. Immer wieder trifft man auf Leute, welche die wirren Botschaften dieses Orakels aus irgendeiner Christensekte zum superneuen Testament erklären. Das sind spießige Beseelte, von denen ich mich – auch aus schlechter Erfahrung – lieber fernhalte. Bei der Lektüre etlicher Songtexte habe ich auch nur Wirres gefunden. "The Times They Are a-Changin'"! Was für ein Quatsch! Die vage Widerstandspose wird widerlegt durch diesen gestrigen und provinziellen Countrysound. Woody Guthrie für Esoteriker. Dieser Dylan singt immer gleich verquast – von immer ausbleibender Veränderung. Seit Jahrzehnten geht das jetzt schon so. Dass seine viel zu vielen Fans ihn sogar für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen haben, passt prima ins Bild. Wenn Günter Grass und Elfriede Jelinek dafür schlecht genug waren, dann kann ihn ruhig auch dieser Nervbarde kriegen. Dirk Schümer
"Desolation Row" (1965)
Manche brauchen ein ganzes Leben, um den "Ulysses" von James Joyce zu verstehen. Ich muss sagen, dass für mich "Desolation Row" die wesentlich härtere Nuss ist. Es ist nicht nur einer der längsten Dylan-Songs, sondern der schwierigste. Mit 14 habe ich das Lied aus "Highway 61 Revisited" zum ersten Mal gehört und kein Wort verstanden, was damals auch an meinen rudimentären Englischkenntnissen lag. Mittlerweile verstehe ich akustisch alles, aber die Rätsel der zehn Strophen zu je zwölf Versen haben sich mir trotzdem nicht erschlossen. Ich bin mir darüber im Klaren, dass Poesie keine Rechenaufgabe ist, die sich komplett lösen lässt. Schließlich würde nur ein Idiot erwarten, ein Celan-Gedicht oder Rimbauds "Eine Zeit in der Hölle" abhaken zu können. Aber ich war doch sehr glücklich, als ich irgendwann begriff, worauf Dylan mit "They're painting the passports brown" anspielen könnte. Das Wunderbare an diesem Meisterwerk ist, dass es keiner dieser selbstverliebten Musikeronanien ist, bei denen einfach niemand im Studio gewagt hat, dem Künstler zu sagen, dass er jetzt mal aufhören könne. Die düstersten Metaphern werden zur schönsten Musik vorgetragen und die akustische Gitarre lockt den Geist und das Ohr immer wieder zur Minne wie ein Troubadour seine Angebetete. Ich will sterben, ohne "Desolation Row" jemals verstanden zu haben. Matthias Heine
"Isis" (1976)
Das Video habe ich erst viel später gesehen. Die CD "Desire" fand ich auf einem Flohmarkt in Locarno am Lago Maggiore um den fünften Mai herum, es war kurz nach Ostern. Ich glaube, sie kostete vier Schweizer Franken, den Gegenwert eines Eisbällchens in der "Gelateria" unten am See, wo man um die Ecke biegt, und das Gleißen und Glitzern liegt vor einem. Oben im Istituto Ricerche Solari, wo mein Vater, ein Astronom, das Teleskop gen Sonne richtete, hörte ich Bob Dylan von seiner "Isis" singen, auf einem schäbigen Kassettenrekorder mit CD-Player. Das Cover sah ein bisschen abturnend aus: Dylan in Schneewesternuniform mit Pelzkragen und Cowboyhut. Die Verse habe ich bis heute nicht verstanden, sie sind undurchdringlich und funkeln wie der Diamantenschatz, den das lyrische Ich und sein zwielichtiger Begleiter suchen gehen. Später – das Grab in der Eispyramide war leer, der Begleiter ist tot – kehrt der Held zu Isis zurück, jenem "mystical child", das ihn immer noch liebt. Dylan singt von dieser Liebe voller Wut auf YouTube Mitte der Siebzigerjahre in weißer Kriegsbemalung. Der Song ist von einer seltsamen Kraft, hart und weich zugleich, wie die Landschaft, in der ich ihm begegnete. Oben auf der Cimetta glänzte der Schnee. Jan Küveler
"Gotta Serve Somebody" (1979)
Der atheistische Jude Jerry Wexler produzierte das erste Album, das Bob Dylan als wiedergeborener Christ einspielte: "Slow Train Coming". Wexler hat Aretha Franklin und Wilson Pickett produziert und sorgte dafür, dass "Slow Train" Soulbekam, vor allem der Opener: "Gotta Serve Somebody". Hier findet sich Dylans Botschaft – nicht nur die Botschaft des Albums, sondern auch seiner christlichen oder seiner chassidischen Phase – in Reinform: Egal, wer du bist, Bankbesitzer oder Tankbesitzer, Erbe oder Friseur: Entweder dienst du Gott oder dem Teufel. Darüber ärgerte sich John Lennon so sehr, dass er den Talking Blues "Serve Yourself" schrieb, in dem er über Konvertiten spottete: Weder Jesus noch Buddha noch Mohammed retten den, der sich nicht selbst zu helfen weiß. Ein Jahr später wurde Lennon von einem wiedergeborenen Christen ermordet. 32 Jahre später schrieb Dylan eine Hommage an den Rivalen: "Roll On, John". Späte Anerkennung oder Heiligsprechung, um die Blasphemie zu überspielen? Alan Posener
"Sweetheart Like You" (1983)
1983 kaufte ich mir mein erstes und, wie ich zugeben muss, in physischer Tonträgerform auch einziges Dylan-Album, "Infidels". Dylan, das war für mich dieser Typ, der ein paar endlos lange Lagerfeuer-Smashhits geschrieben hatte und dessen Gesang verzweifelt versucht, Mark Knopfler nachzuahmen. Der war Anfang der Achtziger das Maß aller Bluesfolkrock-Dinge und hatte das Dylan-Album produziert – für mich der entscheidende Kaufimpuls. Dass Dylan damals in einer schweren künstlerischen Krise steckte und verzweifelt den Spagat zwischen alten, zunehmend irritierten Fans und neuen, popaffinen Hörern probierte, dass Dire Straits ohne Dylan gar nicht vorstellbar gewesen wäre, von alldem hatte ich als 14-Jähriger keine Ahnung. "Sweetheart Like You" war für mich eine Art B-Seite von "Romeo and Juliet", bei dem ja tatsächlich umgekehrt Knopfler schamlos Dylanismen imitiert. Den test of time haben beide Stücke bestanden. "Sweetheart" ist immer noch eine der tollsten Anmachen in Liedform und echter Dylan. Der große Liebende ist hier immer auf der Durchreise; der Mensch an sich nur Gast auf dieser dunklen, lumpigen, nach Rettung flehenden Erde. Und doch kann einem am allerunwahrscheinlichsten Ort die erlösende Schönheit begegnen: "Was macht ein Schatz wie du in so einem Saftladen?" Richard Kämmerlings
"Most of the Time" (1989)
Nach Jahren der evangelikalen Wanderpredigerei und einigen ärgerlich hingeschluderten Alben fand Dylan 1989 mit "Oh Mercy" zurück zu poetischer und musikalischer Kraft. Der kanadische Produzent und Gitarrist Daniel Lanois (der acht Jahre später auch "Time out of Mind" verantwortete), schuf einen schwebenden, raumöffnenden Klang, der dem Meister alle Freiheiten ließ. Der war bei Stimme und in Stimmung. In "Most of the time", mit 5:05 Minuten der längste Song des Albums, besann er sich auf seinen sarkastischen, verwundeten Minnesänger, der so tut, als habe die Angebetete ihm nicht viel bedeutet – meistens jedenfalls. Er gleicht dem Westernhelden, der seine Herzenswunde verbirgt. Meistens habe er einen kühlen Kopf, komme mit allem und jedem klar, könne nicht mal sicher sein, ob sie je bei ihm war, vermisse nichts – aber nur meistens. "I can smile in the face of mankind/ Don't even remember what her lips felt like on mine/ Most of time." Die Ballade atmet Schmerz und Ironie, Tapferkeit und Hoffnung in einer erhabenen Alltagssprache. So verdammt gut war Bob Dylan – meistens. Uwe Schmitt
"Tweedle Dee & Tweedle Dum" (2001)
Es war nicht leicht für ihn und uns, nachdem Bob Dylan gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts wieder ganz der Alte wurde. Seine Platten wurden wieder Werke. Aus seinen Konzerten wurden wieder Messen: Man stand zwischen älteren Männern, die einem erklärten, dass der Meister seine Songs dekonstruiere, weshalb sie, sobald er einen dieser Songs anstimmte, darin wetteiferten, schneller, lauter und gebildeter den Titel in den Saal zu rufen. Auch Bob Dylan litt darunter. Niemand hat so pubertäre Fans wie er. Sein Schaffen wird verklärt, seine Figur werden vergöttert. Jede Boygroup wird heute gelassener behandelt von den Mädchen als der 75 Jahre alte Sänger von den Männern der geburtenstarken Jahrgänge. Das 21. Jahrhundert läutete also ein Kinderlied ein. "Tweedle Dee & Tweedle Dum" erzählte von zwei Freunden, die Amerika durchstreunen wie zwei junge Dylans aus der Dylan-Exegese. Machte sich der Sänger über seine Hörer lustig? "Ich habe genug von dir, sagt Tweedle Dum zu Tweedle Dee", sang er 2001. Heute singt er Sinatra. Michael Pilz
Bob Dylan erhält "Medal of Freedom"
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