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subota, 17. rujna 2016.

Schon einmal gab sich Wiens Demokratie selbst auf




Bundeskanzler Engelbert Dollfuß (1892–1934) nutzte die "Selbstausschaltung des Parlaments" und installierte einen autoritären Ständestaa


Der Anlass war marginal. In drei Raten statt auf einmal wollten die Österreichischen Bundesbahnen ihren Angestellten die Märzgehälter 1933 auszahlen. Die Geschäftsführung war zu klamm, um die Mitarbeiter des größten Staatskonzerns auf einmal zu entlohnen. Es kam zu Streiks, die teilweise auf Weisung des Kabinetts unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß brutal beendet wurden.

Die Konfrontation hatte das Potenzial zu einer Sternstunde des Parlamentarismus in Österreich: Die Abgeordneten des Nationalrates hätten die Regierung in die Schranken weisen, die Krise konstruktiv lösen und damit ihrer Aufgabe als Volksvertreter Ehre machen können. Doch am 4. März 1933 trat das Gegenteil ein.

Zwar gab es im Nationalrat genannten Parlament rechnerisch eine deutliche Mehrheit aus Sozialdemokratie (72 Mandate) und der nationalliberalen, allerdings antisemitischen Großdeutschen Partei (19 Mandate). Dollfuß' Unterstützer von den klerikal-konservativen Christsozialen verfügten dagegen nur über 66, der verbündete reaktionäre Heimatblock stellte acht Abgeordnete. Doch alle vier Fraktionen waren untereinander und teilweise auch in sich heftig zerstritten.

So kam es, dass zuerst die weitgehenden Forderungen der SPÖ an die Regierung zur Lösung des Bahnstreiks mit deutlicher Mehrheit abgelehnt wurden. Dagegen fand die moderatere Kritik der Großdeutschen Partei in der namentlichen Abstimmung eine knappe Mehrheit von 82 zu 79 Stimmen.


i"Es ist unmöglich, das Präsidium zu führen": Nationalratspräsident Karl Renner (1870–1950)

Sollte nun noch über den entgegengesetzten Antrag der Christsozialen abgestimmt werden? Falls auch er eine Mehrheit finden sollte, würde sich die Regierung aussuchen können, welcher Aufforderung des Parlaments sie Folge leisten wollte.

Ein Stunde lang stritten die Parlamentarier über Geschäftsordnungsfragen. Dann stellte sich zusätzlich heraus, dass falsch ausgezählt worden war und die Mehrheit für den Antrag der Großdeutschen nur 81 zu 80 Stimmen betrug.

In dieser unübersichtlichen Situation versagte Österreichs Demokratie zum ersten Mal grundsätzlich. Denn Nationalratspräsident Karl Renner (SPÖ) warf hin, statt sich seiner politischen Verantwortung zu stellen.

Von der christsozialen Fraktion kam heftiger Widerspruch gegen Renners Feststellung, dass der Antrag der Großdeutschen angenommen sei und über die dritte Eingabe nicht mehr abgestimmt werden solle. Das Protokoll der turbulenten Sitzung verzeichnete "lebhaften Widerspruch rechts", also bei den Dollfuß-Unterstützern, Gegenrufe von links sowie "anhaltende Unruhe" und "Lärm".

Renner verkündete: "Die Sache ist für mich erledigt!" – ein Fehler. Denn nun steigerten sich die Zwischenrufe, es herrschte "großer Lärm" im Sitzungssaal des Nationalrates am Wiener Ring. Der Sozialdemokrat, der 1919/20 selbst Regierungschef gewesen war, beging einen zweiten, entscheidenden Fehler: "Meine Herren, es ist unmöglich, das Präsidium zu führen, wenn ein so großer Teil des Hauses den Entscheidungen des Präsidiums widerspricht!", klagte er: "Ich werde das nicht auf mich nehmen. Ich lege meine Stelle als Präsident nieder!"




Seltsamerweise reagierte die SPÖ-Fraktion auf diesen Rückzug ihres Mitglieds, immerhin zweithöchster Repräsentant Österreichs, mit stürmischem Beifall. Denn automatisch übernahm sein Vize Rudolf Ramek, der zweite Präsident des Nationalrates, die Position Renners. Er war ein Christsozialer und von 1924 bis 1926 Bundeskanzler gewesen.

Ramek erklärte das Votum zugunsten des Antrags der Großdeutschen Partei umgehend für ungültig und wollte über den dritten Antrag abstimmen lassen, den seiner Partei. Nun kam lautstarker Widerspruch von links – und auch Ramek trat zurück.

Der dritte Präsident musste übernehmen, Sepp Straffner von den Großdeutschen. Doch er sagte nur: "Hohes Haus! Da sich das Haus über die Streitfälle, die das Haus aufgrund der Abstimmungen eben beschäftigen, nicht einigen kann, bin ich nicht in der Lage, die Sitzung des Hauses weiterzuführen, und lege ebenfalls meine Stelle als Präsident nieder."

Foto: Gamma-Keystone via Getty ImagesBundeskanzler Engelbert Dollfuß und sein neues Kabinett

Fast alle Abgeordneten jubelten und applaudierten. So starb, am 4. März 1933 um 21.55 Uhr, unter Beifall die Demokratie in Österreich. Denn weil alle drei gewählten Parlamentspräsidenten zurückgetreten waren, konnte niemand mehr formal korrekt zur nächsten Sitzung einberufen.

Die ohnehin antidemokratisch eingestellte Regierung unter Engelbert Dollfuß nutzte die Chance. Als sich der Nationalrat elf Tage später auf Initiative von SPÖ-Abgeordneten wiedertreffen wollte, ließ der stark an Italiens faschistischem Diktator Benito Mussolini orientierte Bundeskanzler die Versammlung von der Polizei auflösen – es gab ja keine formal korrekte Einladung.



Faschismus1922 – Mussolinis Marsch auf Rom

Als "Selbstausschaltung des Parlaments" ist die Episode bekannt geworden. Sie zeigt, dass zerstrittene Demokraten gegen machtbewusste und durchsetzungsfähige Politiker keine Chance haben – umso weniger, wenn diese rund die Hälfte der Wähler hinter sich haben.

Für Österreich wurde der 4. März 1933 zur Zäsur: Zuerst errichtete Dollfuß ein autoritäres neues Herrschaftssystem, den antiparlamentarischen Ständestaat. Dann ließ er im Februar 1934 mit militärischen Mitteln die österreichische Sozialdemokratie zerschlagen. Er selbst fiel am 25. Juli desselben Jahres einem Putschversuch österreichischer Nationalsozialisten zum Opfer, und sein christsozialer Nachfolger Kurt Schuschnigg konnte die Unabhängigkeit des nun reaktionären Österreichs von Hitler-Deutschland nur noch knapp vier Jahre verteidigen.
Hitler erzwingt den Anschluss Österreichs




Kurt Schuschnigg regiert 1934 bis 1938 als Bundeskanzler Österreich diktatorisch. Im Februar 1938 zwingt Adolf Hitler ihn, den Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart an der Regierung zu beteiligen.Quelle: STUDIO_HH

Ihm brach schließlich eine Volksabstimmung das Genick: Weil er für den 13. März 1938 ein Plebiszit über Österreichs Unabhängigkeit angekündigt hatte, ließ Hitler die Wehrmacht am 11. März die Grenze überschreiten und Österreich besetzen.

Wie die Abstimmung ausgegangen wäre, weiß niemand. Doch die folgende, allerdings nicht mehr freie Volksabstimmung am 10. April 1938 über den Anschluss Österreichs an Deutschland erbrachte 99,73 Prozent Jastimmen.

Ein Wiener Sozialdemokrat schätzte, dass auch in einer wirklich freien Entscheidung wohl vier Fünftel der Österreicher für Hitler gestimmt hätten: Die Menschen waren, nicht zuletzt wegen der Erschöpfung der politischen Parteien und solcher Pleiten wie am 4. März 1933, der Demokratie müde geworden.

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