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subota, 17. rujna 2016.

Wie Eltern ihre Kinder zu Tyrannen machen



Eltern versagen in der Erziehung, drücken sich vor Führung und Verantwortung. Das Ergebnis sind "Tyrannenkinder". Denn die Kleinen brauchen keine Kumpel als Eltern, sondern eher das Gegenteil.







Heutzutage wollen viele Eltern sich auch nach der Trennung noch gemeinsam um ihre Kinder kümmern. Auch wenn es gut klingt, dass ein Kind mit Mutter und Vater aufwächst - das Modell hat Schattenseiten.Quelle: Die Welt


Und dann hat es geknallt. Nie wird Susanne Matthis* den Blick ihres Sohnes vergessen, ihre Scham, als er mit roter Wange zur Tür rannte. "Ich komm' nie mehr zurück!", brüllte er, während sie versuchte, ihn einzuholen. Wenn die 49-jährige Zahntechnikerin aus einer norddeutschen Kleinstadt von dem Familienfest vor einem Jahr erzählt, bekommt sie noch immer feuchte Augen.

Oskar, damals elf, hatte sich schon den ganzen Tag danebenbenommen. Erst gab er der Gastgeberin nur widerwillig die Hand, dann spielte er während einer Rede demonstrativ mit dem Smartphone. Immer wieder bat die Mutter ihn freundlich flüsternd, doch wenigstens den Ton abzustellen. Oskar rief stattdessen "ihhh Rosenkohl!", als das Hauptgericht serviert wurde. Da machte sie ihrem Ärger Luft, ihrer Wut auf den Sohn, dessen Launen sie schon lange nicht mehr ertragen konnte. Sie weiß, dass es nicht richtig war, zuzuschlagen. "Ich hätte schon viel früher die Bremse ziehen müssen", sagt sie heute.


Hin- und hergerissen zwischen Betreuen und Überbehüten



Matthis ging es wie vielen anderen Müttern und Vätern, die am Ende ihrer Kräfte sind, die die Nerven verlieren, unverhältnismäßig reagieren. Ihre Kinder kennen keine Grenzen mehr, und sie als Eltern wissen nicht, wie sie den tobenden Nachwuchs wieder einfangen sollen. Familienberatungsstellen können sich vor Anfragen kaum retten. Wer bei Amazon unter dem Stichwort "Erziehung" sucht, bekommt knapp 82.000 Buchvorschläge. Eltern sind hin- und hergerissen zwischen den zahllosen Vorstellungen, wie sie erziehen sollen, unsicher, wie sie die Balance halten zwischen Fördern und Überfordern, zwischen Betreuen und Überbehüten.








Auch Pädagogen klagen, dass es schwieriger wird, den richtigen Umgang mit den Schülern zu finden. Eine kürzlich im Auftrag der DAK vom Forsa-Institut durchgeführte Umfrage unter 500 Lehrerinnen und Lehrern kommt zu dem Ergebnis, dass die körperlichen und seelischen Probleme deutscher Grundschüler deutlich zugenommen haben. Neben motorischen Schwächen, Verzögerung der Sprachentwicklung und Übergewicht nannten die Lehrer Konzentrationsschwierigkeiten und sozial auffälliges Verhalten.

Woran liegt das? Sind die Kinder zu renitent oder die Erwachsenen zu schwach? Inzwischen mehren sich die Stimmen, die den Eltern Versagen vorwerfen. In Zeiten fordernder Karrieren, komplizierter Patchworkstrukturen und liberaler Lebensideale fehlten Kraft und Mut für eine Erziehung mit klaren Ansagen. Gerade die, die zu Hause nur Harmonie wollten, bekommen die Quittung – in Gestalt eines quengelnden, tobsüchtigen Kindes, das mit lieben Worten nicht mehr zu erreichen ist.


Wächst eine Generation von Narzissten heran?



Die Wiener Jugendpsychologin Martina Leibovici-Mühlberger stellt in ihrem neuen Buch "Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden" eine düstere Prognose auf. Sie erlebe eine dramatische Zunahme von Verhaltensstörungen, Lustlosigkeit und Leistungsverweigerung. Eine Generation von Narzissten wachse da heran, jenseits von Zucht und Ordnung und weit davon entfernt, die Probleme der Zukunft lösen zu können. Auf die Jugend von heute, so ihre Prophezeiung, können wir nicht zählen.

Der Erziehungsvertrag hat sich in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten deutlich verändert



Neben Gesprächen mit Lehrern und Eltern verarbeitet die Psychologin Erfahrungen aus ihrer Praxis. Eine Galerie von Extremfällen: Sie reichen vom verwöhnten Jungschnösel, der alkoholisiert mit dem elterlichen Range Rover einen immensen Sachschaden anrichtet, sich aber unschuldig fühlt, bis zu einer Neunjährigen, die vor dem Schlafengehen noch gestillt werden muss.

Die Beispiele sind dramatisch, die Ursachen ihrer Ansicht nach eindeutig: Eltern erfüllen ihren Erziehungsauftrag nicht mehr. Einerseits geben sie jedem Wunsch nach Konsumgütern nach, überschütten Kinder mit teurem Spielzeug, erziehen sie zu Materialisten und vernachlässigen, worauf es wirklich ankommt: auf Werte wie Teilen, Rücksicht, Respekt. Andererseits setzen sie viel zu wenig Grenzen.

"Der Erziehungsvertrag", sagt Leibovici-Mühlberger, "hat sich in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten deutlich verändert." Die moderne Familie sei ein um das Kind kreisender Kosmos. Kinder sollen sich ungehemmt entfalten können, gelte heute als Ideal. Sie müssten deshalb nicht lernen, sich zu beschränken, sich an die Bedürfnisse anderer anzupassen. Und sie könnten sich darauf verlassen, dass die Erwachsenen ihnen immer zur Seite stehen. Auf die viel beschriebenen "Helikopter-Eltern" folgen die "Tyrannenkinder".


Ist Selbstvertrauen das Wichtigste, was es zu lernen gibt?



Ihre Mütter und Väter wollen es anders machen als die Elterngenerationen vor ihnen. Sie sind verständnisvoll, demokratisch. Das Generationenbarometer, das das Allensbacher Institut für das Forum "Familie stark machen" erstellt hat, verdeutlicht das. So nennen knapp 90 Prozent der befragten Eltern mit Kindern unter 16 Jahren Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen als wichtige Erziehungsziele. 70 Prozent sagen, dass ihre Kinder lernen sollten, sich nicht so leicht unterkriegen zu lassen.

Sich in eine bestimmte Ordnung einzufügen ist nur noch für 38 Prozent der Befragten ein Erziehungsziel. Kaum verwunderlich, dass Kinder immer selbstbewusster werden, dass Lehrer und Erzieher auf starke Persönlichkeiten stoßen und Eltern es immer schwerer haben, sich durchzusetzen. Die Vorstellung, dass Kinder kaum etwas Wichtigeres lernen müssen als Selbstvertrauen und Durchsetzungskraft, hat eben auch ihre Kehrseite. Sie schürt die Angst, durch Grenzensetzen zu schaden. Und deshalb versuchen es viele Eltern gar nicht erst.


Manchmal ist es auch übertriebene Sorge, die Erziehung erschwert. Vor allem bei Eltern, die erst spät ein Kind bekommen haben. Susanne Matthis war 37, als sie endlich schwanger wurde. Sie und ihr drei Jahre älterer Mann Torsten hatten so lange gewartet. Doch schon in der Schwangerschaft war die Furcht, dass etwas schiefgehen könnte, größer als die Freude. Und so blieb es.

"Es war immer krampfig", sagt Susanne, die nach ihrem Ausraster auf dem Fest eine Familienberatung aufgesucht hat. Da war so vieles, was sie und ihr Mann durchaus ahnten: Dass es nicht förderlich war, wenn sie ihrem Kind jedes Hindernis aus dem Weg räumten, dass sie in Panik verfielen, wenn Oskar mit fünf Jahren auf einen Baum klettern wollte oder als Zehnjähriger mit Freunden ins Freibad.


Was bei "Tyrannenkind" Oskar schieflief



"Wir wussten, dass etwas schiefgelaufen ist", sagt die Mutter, "aber erst die Therapeutin hat uns wirklich die Augen geöffnet." Für die Hilflosigkeit, die sie ihm antrainierten. Und dafür, dass sein tyrannisches Verhalten die Antwort auf ihre Vorstellung von einer schönen Kindheit war.

Oskar wurde verwöhnt. Es machte sie glücklich, als er sich über das Fahrrad mit dem Tigerentenmuster freute, sie gaben nach, als der Vierjährige nur wenige Tage später ein ferngesteuertes Auto haben wollte. Es dauerte nicht lange, bis er anfing, den Eltern das Leben zur Hölle zu machen, wenn er nicht bekam, was er wollte.

„Unsere Therapeutin brachte es ziemlich krass auf den Punkt. Sie nannte Oskar ein Opfer unserer falsch verstandenen Liebe.“

Matthis’ Mutter







Er schrie und weinte – bis sie irgendwann so genervt waren, dass sie ihm die verlangte Schokolade kauften oder erlaubten, noch länger fernzusehen. Die als Gegenleistung abgerungenen Versprechen – "dafür gibt es morgen aber nichts Süßes!" – hätten sie sich sparen können. Oskar hatte gelernt, dass er sie nur lange genug terrorisieren musste, bis passierte, was er wollte. "Unsere Therapeutin brachte es ziemlich krass auf den Punkt", sagt Matthis. "Sie nannte Oskar ein Opfer unserer falsch verstandenen Liebe."

Seit dieser Erkenntnis arbeiten sie und ihr Mann daran, viel öfter Nein zu sagen. Leicht falle es ihnen nicht, aber die Erfahrung, dass sich Oskar nach einiger Zeit auch wieder beruhige und er tatsächlich umgänglicher werde, helfe ihnen, konsequent zu bleiben.


"Eltern müssen Leitwölfe sein", sagt Jesper Juul



Für den dänischen Familientherapeuten und Bestsellerautor zahlreicher Erziehungsbücher Jesper Juul ist Neinsagen ein Liebesdienst. Eltern, die so gut wie nie Nein sagten oder erst Nein und dann doch Ja, nähmen dem Kind die Möglichkeit, Empathie zu entwickeln, die Grenzen des Gegenübers zu akzeptieren.

Sagten Eltern Ja, obwohl sie Nein meinten, hinterlasse das bei dem Kind das Gefühl, belogen worden zu sein. Berechenbar zu sein, sei wichtiger, als es zufriedenzustellen. Wie sonst soll es sich auf die vielen Neins vorbereiten, die es in seinem Leben noch zu hören bekommen wird? Von Kindern, die nicht mit ihm spielen wollen, von Lehrern, die mit seiner Leistung nicht zufrieden sind, von der ersten Liebe, die seine Gefühle nicht erwidert?



Juul fordert eine zeitgemäße Autorität. "Eltern müssen Leitwölfe sein", schreibt er in seinem neuen Ratgeber zu "liebevoller Führung in der Familie". Er beobachtet, dass Eltern sich immer weniger trauen, diese Führung zu übernehmen, weil sie Angst davor haben, sich unbeliebt zu machen – oder weil sie zu bequemlich sind. Juul warnt davor, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Das verunsichere die Kinder. Je klarer etwa am Morgen die Strukturen und Regeln seien, wenn es darum gehe, sich für den Weg in den Kindergarten fertig zu machen, umso geringer sei die Gefahr, dass Konflikte entstünden. Mangelnde Führung fördere Frustrationen ebenso wie tyrannisches Verhalten.

Wie sehr sich Kinder selbst nach Regeln sehnen, zeigt die Studie des KölnerRheingold-Instituts, das im vergangenen Jahr im Auftrag des "Sterns" Mädchen und Jungen zwischen acht und 15 Jahren zu ihren Lebenswelten befragt hat. Demnach wünschen sich Kinder und Heranwachsende von ihren Eltern mehr Klarheit und weniger Kumpelhaftigkeit. Feste Uhrzeiten, verbindliche Ansagen, Werte, nach denen sie sich richten können. Nicht zuletzt deshalb, weil sie ihre von der Arbeit geschafften Eltern häufig als launisch empfinden, schwankend zwischen zu streng und zu nachgiebig.


"Mein Kind ist so wütend. Was kann ich tun?"



Wie kann das im Alltag funktionieren, Regeln durchzusetzen, ohne in alte autoritäre Muster zu verfallen? "Eltern sollen nicht einfach nur die Bestimmerrolle einnehmen", sagt der Berliner Familientherapeut Mathias Thimm von der "Familienwerkstatt familylab", die im ganzen Land Seminare anbietet. Eine häufige Frage, mit der Eltern zu ihm kämen, sei: "Mein Kind ist so wütend. Was kann ich tun?" Thimm fragt dann zurück, welche Funktion die Wut haben könnte. "Manches Kind weiß, es muss nur schreien und bekommt alles, was es will. In der Wut kann aber auch Frustration stecken. Wenn ich zum Beispiel ständig übersehen werde, kann sich das in Wut äußern."

Ich merke, du willst das nicht, ich kann deine Wut verstehen. Und trotzdem entscheide ich jetzt so

Eva Hentschel
Das rät die Familientherapeutin Eltern als Ansprache



Um das herauszufinden, müssten Eltern bewusster mit ihren Kindern reden. Wenn etwa der Sohn wiederholt die Hausaufgaben nicht macht, neigten die meisten zu Vorwürfen: "Schon wieder nicht! Immer bist du so unzuverlässig!" In diesem Fall, sagt Thimm, sei damit zu rechnen, dass er wütend wird. Sie könnten aber auch ruhig fragen: "Was ist das Problem? Wie stellst du dir vor, wie es morgen in der Schule ist? Brauchst du Unterstützung?" Dann werde er wahrscheinlich nicht aggressiv reagieren, weil er sich ernst genommen fühlt.

"Kindern geht es immer am besten, wenn ich authentisch bin", sagt Eva Hentschel, Familientherapeutin aus Kleinmachnow bei Berlin. Die wichtigste Voraussetzung für eine gesunde Führung sei, dass Eltern erst mal auf sich selbst achteten. Nur dann hätten sie auch die Kraft für eine besonnene Erziehung. "Wichtig ist, wie man über Probleme redet. Nicht manipulativ, nach dem Motto: ,Dann geht es Mami besser', sondern ganz klar: ,Ich will das jetzt so und so. Ich merke, du willst das nicht, ich kann deine Wut verstehen. Und trotzdem entscheide ich jetzt so.'"


Bei Matthis brachte die Feuerwehr den Umschwung



Mehr Verantwortung übernehmen heißt auch für Juul vor allem Entscheidungen treffen für die Kinder, die noch nicht den Überblick besitzen, um zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen, nicht fähig sind, vorauszudenken. Erwachsene müssten ihnen diese Kompetenzen erst einmal vorleben.

Dass es im Umgang mit den Kindern wieder viel stärker darum gehen muss, auf sich und seine Intuition zu hören, sich unabhängig von Schuldgefühlen zu machen und dem Druck, perfekte Eltern zu sein, das hat auch Susanne Matthis inzwischen gelernt. Sie und ihr Mann haben sich zu einem Schritt entschieden, von dem sie glauben, dass er der ganzen Familie guttut und Oskar bei der Jugendfeuerwehr angemeldet. Er ist jetzt ein halbes Jahr dabei. Ein Musterknabe ist er nicht geworden. Aber er ist viel ausgeglichener.

Als Matthis mal zu einer Übung ging, um zu schauen, was die da so machen, war sie über den rauen Ton erstaunt, in dem ein Älterer den Kleinen Kommandos erteilte. Ob der nicht ein bisschen barsch zu ihnen sei, hat sie ihren Sohn hinterher gefragt. "Nö", habe Oskar gesagt und gelacht, "ich finde den cool."

* Name von der Redaktion geändert

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