Zar Peter I., der seit 1689 die Regierungsgeschäfte führte, gab dem russischen Staat eine neue Prägung. Er verhalf dem in Teilen noch mittelalterlich geprägten Russland zur dauerhaften Integration in die westeuropäische Staatenwelt. Russland lag technologisch zu dem Zeitpunkt hinter den meisten Staaten Westeuropas zurück. Dazu beigetragen hatte die Abschirmungspolitik des Staatsapparates und der Kirche, die nur da Lücken bot, wo man den Westen benötigte.[61] Auch griff der Moskauer Staat im Falle kriegerischer Gefahr noch auf Adelsaufgebote zurück und war zudem wegen seiner schwachen Finanzkraft nicht in der Lage, den Schutz des riesigen, nur unzureichend erschlossenen Territoriums überall erfolgreich zu übernehmen.[62]
Der junge Herrscher hatte sich durch Aufenthalte in der Moskauer Ausländer-Vorstadt, der Nemezkaja sloboda, und seine Aufenthalte während seiner ersten großen Auslandsreise, der sogenannten Großen Gesandtschaft in den Niederlanden und England vom März 1697 bis August 1698 ein genaues Bild von Westeuropa, seinem Wissen und seiner Technik gemacht. Der neue Zar begann nun den Umbau des alten Russlands und seiner Institutionen nach modernem Vorbild. Übergeordneter Zweck war es, das Steueraufkommen zu vermehren, um das Heer zu vergrößern. Da es anfangs kein geplantes Vorgehen gab, kam es zu häufigen Abbrüchen bereits begonnener innerer Reformen oder zu kompletten Verwerfungen von Neuansätzen. Die seit 1696 fast ununterbrochenen Kriege gegen das Osmanische Reich und Schweden sollten den Verlauf, die Ausrichtung und die Durchführung der Reformpakete zusätzlich beeinflussen.
Peter I. der Große bei der Arbeit
Historiengemälde von Wassili Pawlowitsch Chudojarow
Die Reformen begannen und vollzogen sich ohne eine Gesamtkonzeption auf allen Feldern, wobei nicht nur finanzielle oder militärische, sondern auch kulturelle und Bildungsaspekte eine bedeutende Rolle spielten. Die petrinischen Reformen brachen mit den altrussischen Traditionen und trugen zur Modernisierung des Russischen Reiches bei, welches letztlich zur Großmachtstellung Russlands im 18. Jahrhundert führte. Nachfolgend findet sich eine Übersicht über die in Angriff genommenen Reformen:
Verwaltung und Staatsaufbau: Reformen setzten eine fähige Bürokratie voraus. Die vorhandenen Administrationsorgane waren dafür ungenügend. Überhastete Anfangsreformen in diesem Bereich wurden nach der Schlacht von Poltawa sorgfältiger ausgearbeitet. Vielfach entwarfen ausländische Fachkräfte und Gelehrte die Reglements. Die Gouvernementsreformen von 1708 und 1719 teilten das Reich in acht, dann elf Gouvernements ein. 1711 wurde in einem Ukas der Senat als höchste Zentralbehörde gegründet. Diese hatte anfangs die Funktion einer Stellvertretung des Zaren inne. Zudem sollte der aus neun Männern bestehende Senat das Justizwesen leiten und die Innenpolitik überschauen. Auch wirkte der Senat bei der Gesetzgebung mit. Die zweite Phase der Umgestaltung der Zentralbehörden leitete der Ukas vom 15. Dezember 1717 ein, bei der die ersten Kollegien[63] eingerichtet wurden, die die Vorläufer der späteren Ministerien waren.
Das neuerbaute Sankt Petersburg und Newa
Kupferstich von Joseph Valeriani und Michail Iwanowitsch Machajew, 1753
Die neue Hauptstadt galt im russischen Volk als Symbol des fremden und unverständlichen Neuen. Die ablehnende Haltung wurde hervorgerufen durch die großen Opfer, die der Bau der Stadt forderte, und durch die Anwendung von Zwangsmitteln bei der Peuplierung der Stadt.[64]
Hauptstadt: Um mit den Moskauer Traditionen zu brechen, bedurfte es eines bedeutenden Signals. Dieses Signal bot sich an, nachdem russische Truppen am 1. Mai 1703 bis zur Newa-Mündung vorgestoßen waren. Der Zar ließ nun nach eigenem Plan ab dem 16. Mai die Peter-und-Paul-Festung errichten mit dem Ziel, ein dauerhaftes „Fenster zum Westen“ zu etablieren und damit die Öffnung für die Modernisierung deutlich zu machen. Im November traf das erste holländische Handelsschiff ein, zugleich entstand die erste russische Waren- und Wechselbörse. In den folgenden Jahren wurde der Ausbau Sankt Petersburgs vorangetrieben. Dafür beorderte Peter I. für die Sommermonate 24.000 Arbeitskräfte in die Sümpfe des Mündungsdeltas der Newa. Seit 1708 stieg die Zahl auf bis zu 40.000.[65] Es kam zu Unruhen, vor allem in Südrussland. 1712 wurde die Regierung von Moskau nach St. Petersburg verlegt. Um die neue zentrale Rolle der Stadt als Fenster nach Westen zu fördern, erzwang Zar Peter I. seit 1720 die Umleitung fast des gesamten russischen Außenhandels vom bis dato bedeutendsten russischen Außenhandelshafen Archangelsk nach St. Petersburg.
Kirche: Nach dem Tod des Patriarchen Adrian I. 1700 war der Posten des kirchlichen Oberhauptes der orthodoxen russischen Kirche vakant geblieben. In der Kirchenreform von 1721 wurde die Kirche in Russland endgültig dem Staat untergeordnet.[66]
Wirtschaft: Peters Streben nach erhöhter Kriegsmacht setzte eine wirtschaftliche Unabhängigkeit voraus. Das Heer und die neu entstandene russische Marine mussten mit Waffen, Ausrüstungen und einheitlichen Uniformen versorgt werden. Der Zar gestattete daher den Angehörigen aller Stände, Adeligen, Kaufleute, Handwerkern und Bauern, Fabriken aller Art zu gründen. Seit 1709 nahmen russische Eisenwerke im Ural, in Tula und anderswo ihre Produktion auf. Beim Aufbau der neuen Industrien ergab sich aber sehr bald ein spürbarer Mangel an Arbeitskräften, so dass durch den Zaren die Kategorie der sogenannten Possessionsbauern schuf, die sowohl den Boden zu bewirtschaften als auch in den Manufakturen zu arbeiten hatten.
Finanzen: Um die Besteuerung zu rationalisieren, wurde 1718 die Kopfsteuer eingeführt, wonach allen männlichen Landbewohnern gleichmäßig die gesamte Steuerlast eines Dorfes aufgebürdet werden sollte. Eigentlich als Erleichterung für die Bauern gedacht, hatte sich durch die ständigen Finanzforderungen des Zaren die Lage der Bauern erheblich verschlechtert.[67]
Peter erhob auf die Bärte seiner Untertanen eine Steuer. Steuerverweigerern wurde der Bart gewaltsam entfernt
Zeitgenössischer Holzstich
Gesellschaft: In allen Bevölkerungsschichten gab es Widerstand gegen die Reformpolitik, der sich in Volksaufständen äußerte, die wiederum niedergeschlagen wurden. Dass die drückende Steuerlast, die Schollenbindung und Leibeigenschaft der Bauern Hauptursachen für die nur langsamen Fortschritte im Russischen Reich waren, wurde von Zar Peter I. nicht gesehen.[68] Zu den Oppositionskräften der von oben diktierten Reformpolitik zählte neben der Kirche, die sich durch den Bruch mit den Traditionen provoziert sah, auch der Adel, der sich bei der Ämterbesetzung übergangen fühlte. 1722 wurde im Zuge der Adelsreform eine Rangtabelle eingeführt. Sie ermöglichte den unmittelbaren Vergleich ziviler und militärischer Dienstgrade, brach die Vormachtstellung des alten Erbadels, der Bojaren, und schuf einen von der Krone abhängigen Dienstadel. Nur ein Drittel des Adels durfte sich dem Zivildienst widmen; das Militärische genoss Vorrang.[69]
Bildung: Bei der Verwirklichung seiner Reformabsichten – die ihn insbesondere bei seinen kürzeren Auslandsaufenthalten im Heiligen Römischen Reich 1711 und 1712/3 geprägt hatten – bediente sich der Zar vor allem der deutschen Frühaufklärung, die in Russland im 18. Jahrhundert zur vorherrschenden Denkrichtung werden sollte.[70] Insbesondere die ersten bedeutenden russischen Wissenschaftler Wassili Nikititsch Tatischtschew, Michail Wassiljewitsch Lomonossow und Wassili Kirillowitsch Trediakowski waren von deutschen Gelehrten wie Leibniz und Wolff beeinflusst. Der Zar erließ zahlreiche Erlasse, durch die Schulen verschiedenster Typen gegründet wurden. Dennoch blieb das weltliche Schulwesen im Argen, weil es an Geld und Lehrern fehlte. Ein weiteres Projekt war die Etablierung einer Russischen Akademie der Wissenschaften, die im Dezember 1725 gegründet wurde. In enger Verbindung mit der Akademiegründung stand die von ihm befohlene Erkundung seines Reiches. Die von Peter I. inspirierten Forschungsexpeditionen bis in den Fernen Osten, wie z. B. die Expeditionen Berings, vermittelten der russischen Wissenschaft wichtige Impulse und förderten die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des Reiches.[71]
Kultur: Peter hatte den Eindruck, dass zu sehr an althergebrachten Traditionen festgehalten werde. In seiner Meinung bestärkten ihn Eindrücke, die er auf seiner Reise ins westliche Europa gewonnen hatte. Unter anderem waren wallende Vollbärte in den von ihm besuchten Ländern eher selten zu sehen und auch die Kleidung der bereisten Länder erschien ihm funktioneller, als die Gewänder seiner Untertanen. Er nahm sich daher vor, dies in seinem Reich zu ändern. Peter brachte am 5. September 1698 einen Ukas heraus,[72] der Männer, ausgenommen Geistliche und tendenziell Bauern,[73] anhielt, sich ihren Vollbart abzurasieren. Doch Widerstände von Betroffenen blieben. Daraufhin belegte er Vollbartträger mit einer Abgabe, die 1701 und 1705 vom Zaren erneut angeordnet wurde. Bauern, die in eine Stadt kamen, mussten die Abgabe bezahlen, wollten sie ihren Bart behalten.[74]
Militär: Durch ausländische Berater wie Patrick Gordon, François Le Fort und andere wurden die Grundlagen einer modernen Armee nach westeuropäischem Vorbild geschaffen. Als Initialzündung für die grundlegende Reformierung erwies sich die Katastrophe infolge der Schlacht bei Narva im Großen Nordischen Krieg im Jahr 1700, bei der sich die russische Armee als deutlich unterlegen gegenüber einer viel kleineren schwedischen Streitmacht erwies.
Russland als neue Nordische Großmacht[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Eroberung von Asow durch Peter den Großen
Adriaan Schoonebeck, 1699
In der Außenpolitik richtete der Zar seine Aufmerksamkeit zuerst auf die Südgrenze Russlands. Als Teil des Großen Türkenkrieges wurde im Oktober 1696 die osmanische Festung Asow am Schwarzen Meer nach einjähriger Belagerung erobert. Russland konnte aber ohne eine eigene Flotte, die in der Lage war, das Schwarze Meer zu beherrschen, nicht selbstständig gegen die Hohe Pforte vorgehen. Dem Aufbau einer modernen Flotte, mit dessen Problematik sich der Zar bereits in England und Holland vertraut gemacht hatte, widmete der Zar einen großen Teil seiner Kraft. Jedoch verzögerte der neue Krieg gegen Schweden den Kampf um das Schwarze Meer. Stattdessen ging es nun um den Zugang zur Ostsee und seine Beherrschung.
Im Großen Nordischen Krieg, vom Zaren dem schwedischen König Karl XII. im August 1700 erklärt, erlitten Russland und seine Verbündeten zunächst schwere Rückschläge. In der Schlacht bei Narva am 19./30. November 1700 wurde die russische Armee vom Schwedenkönig Karl XII. vernichtet. Dieser wandte sich anschließend wieder nach Polen, während Zar Peter in der Zwischenzeit die russische Armee von Grund auf modernisierte. Karl XII. hatte in der Zwischenzeit August II. geschlagen und am 24. September 1706 einen Siegfrieden geschlossen. Nun wandte er sich erneut Russland zu und begann 1708 einen Feldzug gegen Moskau. In der Schlacht von Poltawa am 27. Juni/8. Juli 1709 konnte Peter einen entscheidenden Sieg über das schwedische Heer erringen, der die Wende des Krieges bedeutete. Dass auch die russische Macht an ihre Grenzen stieß, wurde 1711 sichtbar, als bei einem erneuten Krieg gegen das Osmanische Reich Zar Peter I. im Juli mitsamt seiner 38.000 Mann zählenden Armee[75] am Prut in Gefangenschaft geriet, jedoch nach zwei Tagen unter Verzicht von Asow und der russischen Asow-Flotte überraschend freigelassen wurde. Nachdem Russland das bis dato schwedische Livland und Estland erobert hatte, löste es – als neuer Ostseeanrainer – im Ergebnis des Frieden von Nystad 1721 Schweden als vorherrschende Ostseegroßmacht ab. Zudem wurde das nach dem Frieden von Zar Peter Imperiale ernannte Russische Reich von nun an wieder in die allgemeine europäische Geschichte verwickelt und ein festes Glied des europäischen Staaten- und Bündnissystems.[76] Dennoch hatte der Nordische Krieg dem russischen Volk das Äußerste an Leistung abverlangt. Zeitweilig wurden 82 Prozent der Staatseinnahmen für den Krieg ausgegeben.[77]
Russisches Kaiserreich (1721–1917)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
→ Hauptartikel: Russisches Kaiserreich
Zar Peter I. („Peter der Große“) nahm am 20. Oktober 1721 den Titel „Imperator und Selbstherrscher (Autokrat) aller Russen – Zar zu Moskau, Kiew, Wladimir, Nowgorod, Kasan und Astrachan“[78] bzw. „Kaiser aller Reußen“ an und machte einen Monat später am 21. November die Titulatur als „Kaiserliche Majestät“ (Imperatorskoje Welitschestwo) bekannt.[79] Auslöser für die Einführung des russischen Kaisertums war die durch den Sieg über die Großmacht Schweden im Großen Nordischen Krieg erlangte Vormachtstellung Russlands in Ost- und Nordeuropa sowie Peters I. vorausgegangene allgemeine Bestrebungen zur Reformierung des russischen Staatswesens nach westeuropäischem Vorbild, dem die Gleichstellung des Russischen Reiches im europäischen Machtgefüge durch den neuen Titel folgen sollte.
Aufgrund des Rechtsakts von 1721 durch den allrussischen Kaiser (imperator wserossijskij)[80] Peter den Großen änderte sich die offizielle Bezeichnung des russischen Reiches. Der Terminus imperija („Imperium“) löste den bislang benutzten Begriff zarstwo („Reich, Zartum“[81]) ab.[82] Im amtlichen Sprachgebrauch ersetzte die bis dahin nur gelegentlich verwendete hellenisierte Form Rossija nun endgültig sowohl den Ausdruck Rus als auch den Zweitnamen Moskowien.[83]
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stieg das Kaiserreich zur Kontinentalmacht auf; am Beginn des 19. Jahrhunderts avancierte Alexander I. zum „Retter Europas“ vor Napoleon. Die Expansion und internationale Geltung standen im Gegensatz zu den strukturellen Problemen des Reiches. Die starre Sozialverfassung in Form der Leibeigenschaft war für sich als aufgeklärt empfindende Herrscher wie Katharina II. und Alexander I. eine Herausforderung, an der sie scheiterten, während Nikolaus I. gerade in dem Erhalt der Sozialverfassung die Stärke Russlands sah und mit dieser Vision im Krimkrieg scheiterte.
Fortführung seines Werkes[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Die Proklamation Peters I. zum Kaiser erregte in der europäischen Öffentlichkeit großes Aufsehen und wurde von den Regierungen der meisten Staaten als Provokation empfunden. Es war schwer für die russische Diplomatie, die internationale Anerkennung der neuen Herrschertitulatur zu erreichen.
Nach dem Tod Peters 1725 folgte ihm seine Frau Katharina I. auf den Thron. Sie stand unter dem Einfluss von Alexander Danilowitsch Menschikow, dem sie die Regierungsgeschäfte praktisch uneingeschränkt überließ. Doch schon zwei Jahre nach ihrem Regierungsantritt starb Katharina. Ihr Nachfolger wurde der Enkel Peters des Großen, Peter II., der Menschikow schon bald entmachtete und seinen Hof nach Moskau verlegte. Doch auch Peter starb schon bald nach seinem Regierungsantritt an den Pocken ohne einen Erben zu hinterlassen. Nach seinem Tod wurde der Hof erneut nach St. Petersburg verlegt.
Seine Nachfolgerin als Zarin wurde seine Tante, Anna Iwanowna. Sie bremste viele Reformen Peters des Großen, die zu diesem Zeitpunkt noch wirksam waren. Das Geld wurde der Förderung von Bildung und anderen Unternehmungen entzogen und für aufwändige und verschwenderische Hofzeremonien ausgegeben. Die Persienfrage, ein Konfliktherd gegenüber England und Österreich, wurde zunächst entschärft, indem Russland nicht weiter darauf drängte, am Kaspischen Meer und Kaukasus zu expandieren. Russland zog sich sogar aus Gebieten zurück, die unter Peter I. erobert wurden. Dafür konnte ein Bündnis mit Persien gegen das Osmanische Reich abgeschlossen und Handelsvorteile erzielt werden. Auch gegenüber China gelang nach dem Vertrag von Kjachta 1727 eine Ausweitung des Handels. Durch verschiedene Expeditionen setzte man die Erkundung des Fernen Ostens fort. Mit der Erschließung Kamtschatkas wurde begonnen und 1731 ein Aufstand der dortigen Einheimischen niedergeworfen. Unter Kontrolle geriet schließlich auch Kasachstan. Bis 1740 stellten sich die dortigen Khane unter den Schutz des russischen Kaisers. Eine formelle Eingliederung in das Russische Kaiserreich erfolgte allerdings noch nicht gleich. In der Westpolitik versuchte die russische Diplomatie nach 1725 defensiv zu handeln um in den Bündnissen mit Österreich und Frankreich die neu gewonnene Stellung an der Ostsee und in Polen zu halten. Bis zum Beginn der 1730er Jahre bildete sich dabei ein Verständigungssystem heraus, das auf einem Bündnis mit Österreich und Preußen sowie auf einem Ausgleich mit England beruhte. Eine erste Krise des Systems brach 1733 im Konflikt auf die Nachfolge August II. auf dem polnischen Thron aus. Frankreich versuchte seinen Favoriten Stanislaw Leszczynski durchzusetzen. Die Allianz der drei Schwarzen Adler bestehend aus Russland, Österreich und Preußen versuchte einen sächsischen Kandidaten durchzusetzen. Der Polnische Erbfolgekrieg sorgten vor allem russische Truppen bis 1736 für den Sieg des sächsischen Kandidaten August III. Als Kriegsgewinn kam Kurland, auf das eigentlich Preußen abgezielt hatte, unter russischen Einfluss.
Kabinett Annas
Als der Sieg in Polen feststand, fiel 1735 die Entscheidung zum Krieg gegen das Osmanische Reich. Begründet wurde das weitere Vordringen Russlands am Kaukasus und am Schwarzen Meer, um sich handelspolitische und strategische Vorteile zu verschaffen. Zu dem Krieg drängte vor allem Burkhard Christoph von Münnich, ein Oldenburger der besonders in der Orientpolitik an Einfluss gewonnen hatte. Unter Anna hatten viele Deutsche einen erheblichen Einfluss im russischen Staat gewonnen, darunter Ernst Johann von Biron und Heinrich Johann Ostermann. Dies führte zu Vorwürfen an Anna, unter ihr herrsche die deutsche Partei. Dieses Bild ist jedoch zu einfach. Die Mehrzahl der höchsten Stellen wurde durchaus von Russen besetzt, die keineswegs im Gegensatz zu den Deutschen standen. Diese Entwicklung wurde vor allem durch den Herrschaftsstil Annas begünstigt, die sich ein persönliches Beratungsgremium einrichtete und den einst mächtigen Regierenden Senat zur politischen Bedeutungslosigkeit verurteilte. Seit 1735 verzichtete die Kaiserin aber zunehmend auf ihre eigenhändige Unterschrift. Dies führte zu einer zunehmenden Günstlingswirtschaft unter ihrem Favoriten Ernst Johann Biron. Der Russisch-Österreichische Türkenkrieg nahm militärisch einen wesentlich ungünstigeren Verlauf als erwartet. Im Frieden von Belgrad musste Russland 1739 fast alle Eroberungen die es gemacht hatte wieder herausgeben. Die Folgen zeigten sich sofort im Westen und im Norden, als die Schweden unter Ausnutzung der russischen Schwäche Bündnisverträge mit dem Osmanischen Reich und Frankreich schlossen. Der Erste Schlesische Krieg von 1740 bis 1742 im Rahmen des Österreichischen Erbfolgekrieges brachte weitere Nachteile Russlands. Preußen und Österreich standen sich nun feindlich gegenüber und Frankreich näherte sich Preußen an und gewann damit weiteren außenpolitischen Spielraum. Als Anna 1740 starb, wurde von Biron kurzzeitig Regent für den erst zwei Monate alten Iwan VI., einen Großneffen Annas. Bald schickte man ihn jedoch in die Verbannung. Münnich, dann nochmal Ostermann gelangten zu neuer Macht.
Elisabeth I. in Zarskoje Selo, Gemälde von Eugene Lanceray
1741 stürzte schließlich die Tochter Peters des Großen Elisabeth Petrowna, mit Hilfe der Garde, die bisher herrschende Hofpartei. Da diese in der Öffentlichkeit mit verhassten Ausländern identifiziert wurde, galt der Umsturz beinahe als nationalrussische Revolution. Ostermann und Münich wurden verbannt, Iwan VI. inhaftiert und später bei einem Befreiungsversuch getötet. Die Regierungszeit Elisabeths war weniger von spektakulären Erfolgen geprägt, galt aber insgesamt also positiv mit soliden Fortschritten für Russland. Kaiserin Elisabeth nahm nach ihren Staatsstreich einen Kurswechsel auf die Seite Frankreichs vor, das sie unterstützt hatte. Mit dieser Rückendeckung führte sie 1742–1743 einen siegreichen Krieg gegen Schweden.[84] Die Regierungszeit von Elisabeth war das Gegenteil des Herrschaftsmodells von Anna. Hohe Staatsämter wurden wieder an Russen vergeben, Modernisierung und Weiterentwicklung des Landes wurde wieder angestoßen. Beispielsweise unterstützte Elisabeth Michail Lomonossow bei der Gründung der Moskauer Staatsuniversität. Elisabeth Petrowna erließ einige sehr liberale Gesetze, unter anderem wurde in Russland die Todesstrafe abgeschafft und während ihrer Regierungszeit kein einziges Mal vollzogen. Elisabeth, die sich stark auf den Adel stützte, förderte die Künste und die Architektur, auf ihre Initiative wurde das Winterpalais von Sankt Petersburg, der Katharinenpalast und viele andere bekannte Bauwerke errichtet. St. Petersburg, auch das Venedig des Nordens genannt, stieg endgültig zu einer bedeutenden Metropole auf. Während der Regierungszeit von Elisabeth blieb Russland im Zuge des Österreichischen Erbfolgekrieges auf der österreichischen Seite. Das Russische Kaiserreich spielte im Siebenjährigen Krieg eine ausschlaggebende Rolle. In dem Renversement des alliances von 1756 blieb Russland wiederum an Österreichs Seite, selbst mit der Gefahr der Feindschaft mit England, das Russlands wichtigster Außenhandelspartner war.[85] Die russische Armee operierte sehr erfolgreich und eroberte Ostpreußen. Der Tod von Elisabeth 1762, bekannt als das Mirakel des Hauses Brandenburg, wendete die totale Niederlage Preußens ab.
Öffentliche Bekanntgabe des Friedens von St. Petersburg
Der deutschfreundliche Neffe (sein Vater war der Herzog von Schleswig-Holstein-Gottorp) von Elisabeth, Peter III. wurde russischer Kaiser. Als Nachfolger Elisabeths wurde Peter III. von den Staatsgeschäften ferngehalten, so dass er den Thron ohne eigenes Netz von Beratern bestieg.[86] Peter III. gab nun Preußen alle eroberten Gebiete zurück. Aus seiner kurzen Herrschaftszeit entstand am 18. Februar 1762 das Manifest über die Befreiung des Adels vom obligatorischen Staatsdienst. Die Adeligen erhielten damit das Recht, dem russischen Staat nicht zu dienen, wenn immer sie es wünschten. Der Ukaz kam insbesondere dem Hofadel zugute, während die Masse des kleinen und mittleren Adels zu bescheidenen Bedingungen im Dienst bleiben musste. Langfristig ergab sich aus dieser „Adelsbefreiung“ einerseits die Schaffung einer echten, von der Regierung distanzierten Gesellschaft. Andererseits ergaben sich daraus Legitimationsprobleme für die Aufrechterhaltung der Leibeigenschaft der Bauern. Denn die Dienstpflicht der Bauern wurde bisher von dem Adels so begründet, das diese auch den Dienst für den Kaiser zu leisten hätten. Dieses ethisch definierte Diensthaus wurde nun zerstört. Zudem gelang dem Kaiser die vollständige Säkularisation der Kirchengüter. Damit wurden die 800.000 Kirchenbauern zu Staatsbauern. Darüber hinaus schaffte er die diskriminierenden Gesetze gegenüber den nicht-orthodoxen Religionen ab.[87] Aus der allgemeinen Unzufriedenheit mit der Politik Peters III. entstand eine Verschwörung, im Zuge derer seine Ehefrau Katharina II. („die Große“) an die Macht kam. Vorausgegangen war eine Drohung Peters III., sich scheiden zu lassen. Er wurde interniert und wenige Tage später ermordet.
Das Zeitalter Katharinas II.[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Katharina die Große
Am 28. Juni 1762 rief sich Katharina mit Unterstützung der Garderegimenter und ohne den Widerspruch der höchsten Institutionen des Reiches (z. B. des Regierenden Senats) zur Kaiserin aus. Katharina II. war im ganzen das Gegenteil ihres Mannes. Sie war den russischen Sitten zugänglich und lernbegierig. Um ihre Macht abzusichern, betrieb sie eine Politik zugunsten des Adels und des Beamtentums. Die Adelspolitik Katharinas II. spiegelte sich in fast allen inneren Reformen wider. Um ihre Legitimation zu stützen, berief Katharina II. 1767 eine Versammlung von gewählten Repräsentanten (Gesetzgebende Kommission) ein. Diese sollte ein Gesetzbuch diskutieren und entwerfen. Als sich die Diskussionen in die Länge zogen und unbequeme Fragen aufwarfen, wurde diese Kommission von Katharina II. wieder aufgelöst.
Wirtschaftlich machte Russland unter Katharina II. weitere Fortschritte. Der Binnenhandel wurde zollfrei durchgeführt, das Straßen- und Kanalnetz wurde verbessert und allen Ständen wurde ein größerer Spielraum und größere Freiheit bei der Besiedelung neu erworbenen Landes, z. B. in der Ukraine zugestanden. Zur Modernisierung der Landwirtschaft gründete Katharina II. die Kaiserliche Freie Ökonomische Gesellschaft. Auf einigen Gebieten wurde Russland ein führender Hersteller und Exporteur. Dies betraf besonders die Produkte Eisen und Stahl. Auch die Dichte und Anzahl der wirtschaftlich lebensfähigen Städte wurde größer. Alles in allem galt Russland ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als ein nach zeitgenössischen europäischen Standards entwickeltes Land. Diesen Vorteil sollte Russland aber wieder in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung verlieren.[88]
Zusammen mit ihrem Favoriten Grigori Potjomkin entwarf sie eine kühne Vision, das sogenannte „Griechische Projekt“. Es sah vor, die Macht des Osmanischen Reiches auf dem Balkan zu brechen und ein zusammenhängendes orthodoxes Reich von der Ägäis bis nach Russland zu erschaffen. Die Meerengen sowie Konstantinopel sollten unter die Kontrolle Russlands fallen. Eine Reihe von Kriegen gegen das Osmanische Reich brachte dieses Ziel tatsächlich näher, auch wenn es nie vollständig realisiert wurde. Weite Teile Südrusslands und der Südukraine kamen zum Russischen Reich. In den neuen Landstrichen, die unter dem Namen Neurussland zusammengefasst waren, wurden zahlreiche neue Städte wie Sewastopol, Odessa oder Jekaterinoslaw gegründet. Katharina besaß eine große Macht in Polen-Litauen und übte großen Einfluss auf dessen Entscheidungen und Thronverhältnisse aus. Schließlich beschloss sie zusammen mit Preußen und Österreich die polnischen Teilungen, bei denen sich Russland große Gebiete sicherte.
Im Inland war sie durch die Ausdehnung der Leibeigenschaft auf die Ukraine 1773/74 mit einem massiven Bauern- und Kosakenaufstand (Pugatschow-Aufstand) konfrontiert. Katharina konnte den Aufstand blutig niederschlagen, doch weite Teile des südlichen Wolga- und Uralgebietes blieben noch lange von dem bürgerkriegsähnlichen Aufstand verwüstet. Zum Wiederaufbau und der Wiederbesiedlung dieser Landstriche wurden viele Deutsche als Siedler nach Russland eingeladen. Katharina beseitigte außerdem die Autonomie der ukrainischen Kosaken und gab ihnen stattdessen Ländereien im Krasnodar-Gebiet. Die französische Revolution von 1789 brachte sie endgültig von den liberalen Ideen ab, die sie in der Anfangszeit ihrer Herrschaft noch gepflegt hatte.
Bis 1812 wurden Finnland, Georgien und Bessarabien russisch.
Russland im Zeitalter der Französischen Revolution[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Nach Katharinas Tod folgte ihr nicht, wie sie ursprünglich gewünscht hatte, ihr Enkel Alexander, sondern ihr verhasster Sohn Paul I. (1796–1801) am 17. November 1796 nach. Anlässlich seiner Krönung zum Kaiser im April 1797 erließ er ein neues Thronfolgegesetz, das die männliche Linie der Thronfolge bevorzugte. Der älteste Sohn oder, wenn keine Söhne vorhanden waren sollte der älteste Bruder automatisch die Nachfolge antreten. Dies bedeutete die Begründung eines Erbkaisertums. Bisher konnten die russischen Kaiser ihren Nachfolger frei bestimmen.
Am Zweiten Koalitionskrieg gegen Frankreich nahm er teil, da Ritter des Malteserordens ihn im Oktober 1798 zum Großmeister des Malteserordens wählten und ihn um Hilfe gegen Frankreich anriefen. Er stellte Hilfstruppen für die von den Briten beabsichtigte Landung in den Niederlanden, für den Krieg in Süddeutschland und in Italien. Sultan Selim III. schickte er eine Flotte mit 4000 Soldaten nach Konstantinopel zu Hilfe. Russische Truppen erzielten in Italien Erfolge, doch die Landung in den Niederlanden endete mit einer Kapitulation. Kaiser Paul schrieb diese Misserfolge den verbündeten Befehlshabern zu. Er sagte sich von der Koalition los und schloss nach dem Muster des Neutralitätsvertrags vom 26. Februar 1780 zur Beschränkung der britischen Seemacht, im Dezember 1800 einen solchen mit Schweden, Dänemark und Preußen. Großbritannien antwortete sofort mit einem Angriff auf Kopenhagen.
Seine kurze Regierungszeit hinterließ innenpolitisch ein widersprüchliches Bild. Anfangs erließ er einige wohltätige Verordnungen zugunsten der Leibeigenen und Altgläubigen. Ein anderes Gesetz trennte einen Teil der Kronbauern als Eigentum der kaiserlichen Familie unter dem Namen Apanagebauern ab. Aus Misstrauen gegen die revolutionären Ideen der französischen Revolution verbot Paul aber den Besuch ausländischer Lehranstalten und Universitäten, führte eine verschärfte Zensur und strenge Aufsicht über alle im Reich lebenden Ausländer und fremden Reisenden ein und bestrafte freie Meinungsäußerung. Paul schottete Russland zunehmend ab vom Rest der Welt. Namentlich der Adel fühlte sich durch die Politik Pauls zurückgesetzt, da er die Leibeigenschaft etwas einschränkte und versuchte, den Adel mit Steuern zu belegen. Dies führte zu Gerüchten unter den Bauern, der Kaiser würde die Leibeigenschaft aufheben. Als Folge bildete sich eine Adelsverschwörung. In der Nacht des 24. März brachten ihn Angehörige der Palastgarde um.[89]
Russland in den Napoleonischen Kriegen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Treffen des russischen und französischen Monarchen auf der Memel bei Tilsit; Gemälde von Adolphe Roehn (1799–1864)
Sein 23-jähriger Sohn Alexander I. (1801–1825) entsagte sofort in einem Vertrag mit Großbritannien der bewaffneten Neutralität. Bald erkannte er, dass sein kooperativer Kurs zu Frankreich von Napoleon nur benutzt wurde, um in Mitteleuropa nach Willkür schalten zu können. 1805 trat er der dritten Koalition gegen Frankreich bei. Doch wurde das russische Heer geschlagen. Seinem Freundschaftsbündnis mit Friedrich Wilhelm III. getreu, kam Alexander 1806 Preußen im Vierten Koalitionskrieg zu Hilfe. Alexander schloss am 7. Juli mit Napoleon den Frieden von Tilsit. In einem geheimen Bundesvertrag teilten sie sich die Herrschaft über Europa. Genaueres wurde bei einer zweiten Zusammenkunft in Erfurt (Erfurter Fürstenkongress, September bis Oktober 1808) bestimmt. Russland überließ Napoleon die Herrschaft über Deutschland, Spanien und Portugal und trat der Kontinentalsperre gegen Großbritannien bei. Dafür durfte Russland Schweden und die Türkei erobern.
Schon Anfang 1808 hatte Russland Schweden den Krieg erklärt und ein Heer in Finnland einrücken lassen, das in kurzer Zeit erobert wurde; 1809 gingen russische Truppen über das Eis des Bottnischen Meerbusens, besetzten die Ålandinseln und die gegenüberliegende schwedische Küste. Karl XIII. von Schweden musste den Frieden von Frederikshamn schließen (17. September 1809) und ganz Finnland bis zum Fluss Tornea und die Ålandinseln an Russland abtreten. Das zweite Opfer des Tilsiter Bündnisses war die Türkei. Von Napoleon provoziert, begann sie am 30. Dezember 1806 den achten Russisch-Türkischen Krieg (1806–1812). Die Russen drangen in die Donaufürstentümer ein und erzwangen den Frieden von Bukarest (28. Mai 1812), durch welchen der Pruth zur Grenze zwischen den beiden Reichen bestimmt wurde. Ein Krieg mit Persien wurde gleichzeitig durch Abtretung eines Länderstreifens am Westufer des Kaspischen Meers mit Baku beendet.
Kaum waren diese Kriege beendet, begann der Krieg mit Frankreich 1812. Ursache des Krieges war der Übermut Napoleons, der Russland als Bündnispartner nicht mehr zu brauchen glaubte und allein in Europa herrschen wollte und forderte eine Verschärfung der Kontinentalsperre. Im Sommer 1812 überschritt Napoleon mit der Großen Armee von 477.000 Mann die russische Grenze. Die Russen waren zahlenmäßig weit unterlegen (ca. 200.000 Mann). Trotzdem besiegten sie Napoleon, indem sie offene Feldschlachten mieden, sich in das weite Innere des Reiches zurückzogen und den Feind durch Kleinkrieg ermüdeten. Um die Bevölkerung von jeder Unterstützung des Feindes abzuhalten, wurde die orthodoxe Religion für gefährdet erklärt und der heilige Krieg proklamiert. Die Hauptarmee unter Napoleon schlug die Richtung nach Moskau ein, erreichte am 28. Juni Vilnius, am 28. Juli Wizebsk und stieß erst Mitte August bei Smolensk auf die 116.000 Mann starke russische Westarmee unter Barclay de Tolly. Sie leistete Widerstand, wurde aber am 17. August geschlagen.
A. Smirnow: Brand von Moskau
Nachdem Michail Kutusow den Oberbefehl übernommen hatte, wagten sie am 7. September noch einmal die Schlacht von Borodino. Zwar mussten sie nach einem hartnäckigen und furchtbar blutigen Kampf ihre Stellung räumen und Moskau preisgeben, in das Napoleon am 14. September einzog; aber das französische Heer war auf 100.000 Mann zusammengeschmolzen, erschöpft und kriegsmüde, und statt durch den Besitz Moskaus den Frieden erzwingen zu können, fand Napoleon die Stadt von fast allen Einwohnern verlassen und der Vernichtung geweiht; denn am Abend des 15. September begann der Brand Moskaus, der in sechs Tagen fast die ganze Stadt in Asche legte und die Franzosen der Mittel des Unterhalts beraubte. Napoleon konnte nun nicht in Moskau überwintern, und nachdem seine Friedensanträge von Alexander erst hingehalten, dann zurückgewiesen worden waren, trat er am 18. Oktober den Rückzug an. Durch den Mangel an Lebensmitteln und die früh eingetretene Kälte litt die Armee fürchterlich und war schon in Auflösung, als sie am 9. November Smolensk erreichte. Mit Mühe, unter Aufbietung der letzten Kräfte, erzwangen die Franzosen am 26.–28. November den Übergang über die Beresina. In bejammernswertem Zustand erreichte der Rest des Heers am 6. Dezember Wilna. Der Abfall Yorcks von den Franzosen (30. Dezember) nötigte die Franzosen auch zur Räumung der Weichsellinie.
Die Russen erobern Paris 1814.
Auch die russischen Truppen waren durch die Verluste und die Strapazen des Winterfeldzugs stark vermindert und erschöpft, und im russischen Hauptquartier waren viele einflussreiche Personen für einen sofortigen, möglichst vorteilhaften Frieden mit Frankreich. Aber zu einem solchen zeigte sich Napoleon keineswegs geneigt, und auch Alexander verlockten Ehrgeiz und Herrschsucht sowie der Wunsch, sich den Besitz ganz Polens zu sichern, zur Fortsetzung des Kriegs im Bund mit Preußen (siehe Befreiungskriege). Der Frühjahrsfeldzug 1813 endete mit dem Rückzug nach Schlesien. Im zweiten Teil des Kriegs aber, als Österreich, Großbritannien und Schweden der sechsten Koalition beigetreten waren, wurde Napoleon aus Deutschland vertrieben. Im Rate der Verbündeten spielte Kaiser Alexander neben Metternich die bedeutendste Rolle. Er bewirkte die Restauration der Bourbonen und die Schonung Frankreichs im ersten Pariser Frieden. 1815 wurde Alexander I. in Europa als „Retter Europas“ gefeiert und bestimmte beim Wiener Kongress maßgeblich die Neuordnung Europas mit. Mit auf seine Anregung hin wurde unter anderem die Heilige Allianz, die aus Russland, Österreich und Preußen bestand, gegründet. Russland erhielt das eigentliche Polen (das so genannte Kongresspolen) als besonderes Königreich, dem auch eine eigene liberale Verfassung verliehen wurde. Seine Besitzungen dehnten sich nun im Westen bis nahe an die Oder aus, während es sich im äußersten Osten über die Beringstraße hinaus über einen Teil Nordamerikas ausbreitete; es umfasste über 20 Millionen Quadratkilometer mit etwa 50 Millionen Einwohnern. Russland dominierte nun Kontinentaleuropa, bis der Krimkrieg in den 1850er Jahren dieser Dominanz ein Ende setzte.
Russlands Wachstum erreichte im 19. Jahrhundert seinen Zenit.
Reform und Beharrung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Nach den Grundsätzen Rousseaus erzogen, schwärmte Alexander I. für humane Ideale, ohne jedoch auf seine unbeschränkte Herrschergewalt zu verzichten. An Stelle der von Peter I. begründeten Kollegien errichtete er acht Ministerien (1802), schuf für die Prüfung und Beratung aller neuen Gesetze und Maßregeln der Regierung den Staatsrat (1810, auch Reichsrat genannt), suchte die Finanzen zu regeln und legte zur Verminderung der Heereskosten Militärkolonien an. Die Leibeigenschaft hob er in den baltischen Provinzen auf und milderte sie in Russland selbst. Die Zahl der Gymnasien und Volksschulen wurde beträchtlich vermehrt, Universitäten neu errichtet (in Kasan und Charkiw) oder reorganisiert (in Dorpat und Vilnius). Die gebildeten Bevölkerungskreise in Russland sahen sich durch die Verschärfung der Herrschaft um ihre Hoffnungen betrogen, mit ihren Opfern im Krieg gegen Napoleon liberale Freiheiten zu erreichen. Es entstand eine Reihe von Geheimbünden die gesellschaftliche und politische Möglichkeiten der Umgestaltung diskutierten und dafür revolutionäre Programme entwickelten. Alexander starb Ende 1825 in Taganrog am Asowschen Meer, ohne Nachkommen zu hinterlassen.
Dekabristenaufstand in St. Petersburg
Laut Nachfolgeregelung wäre ihm eigentlich sein Bruder Konstantin auf dem Thron gefolgt; dieser hatte jedoch bereits 1822 auf den Thron verzichtet. Alexander hatte deshalb im Geheimen seinen Bruder Nikolaus Pawlowitsch zu seinem Nachfolger designiert. Nach dem Tode Alexanders wurde erst Konstantin zum Herrscher ausgerufen; als dieser verzichtete, kam es zeitweise zu einer wirren Situation. Bei der Vereidigung der Petersburger Garnison auf Nikolaus I. kam es aus Enttäuschung über ausgebliebene innenpolitische Reformen 1825 zum Dekabristenaufstand (russ. dekabr = Dezember). Der Putsch am 26. Dezember brach aber innerhalb weniger Stunden zusammen. Durch die nachfolgenden Urteile wurde die Gruppe liberaler Verfechter in Russland im Kern getroffen. Für lange Zeit blieb ihre politische Aktivität gelähmt. Da auch der Adel sich passiv verhielt, sah sich Kaiser Nikolaus in der Politik auf sich selbst und die Beamtenschaft verwiesen. Unter seiner Ägide wurde auch die Geheimpolizei, die spätere Ochrana, ins Leben gerufen.
Nikolaus, der bis 1855 regierte, war ein eher vorsichtiger Herrscher, der sich vor allem als Bewahrer der bestehenden Ordnung im Innern und Äußeren sah. Er unterstützte die Reaktion in Europa; mehrmals drohte Nikolaus mit einer Interventionsarmee, wenn es, wie beispielsweise in Belgien, zu nationalen Unruhen kam. Den Zeitgenossen in Europa galt er daher nicht mehr als Befreier wie sein Vorgänger Alexander, sondern als Gendarm Europas. Mit seinem Namen verbinden sich die Niederschlagungen der Aufstände in Polen 1831 und – auf Bitten Österreichs – Ungarn 1849.
März 1856: Gesandte beim Pariser Kongress, der zum Pariser Frieden führte.
Eine Weltmacht auf dem Prüfstand und Expansion im Kaukasus und Zentralasien[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Die russischen Versuche, auf dem Weg mittels Protektorat über das Osmanische Reich die Meerengen zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer zu kontrollieren, wurden durch Frankreich und Großbritannien, aber auch durch Preußen und Österreich zurückgewiesen (vgl. Dardanellen-Vertrag). Bereits im Russisch-Türkischen Krieg (1828/29) hatte Russland Gebiete im südlichen Kaukasus vom Osmanischen Reich gewonnen und dieses geschwächt. Moldau, Walachei und Serbien wurden autonom und gerieten unter russischen Einfluss. Der osmanische Sultan selbst war nicht bereit, sich mehr an Russland anzulehnen, wodurch dieses seinen Protektoratsanspruch auf die Christen in Gefahr sah. 1853 kam es zu erneuten militärischen Verwicklungen zwischen Russland und dem Osmanischen Reich; Napoleon III. ergriff die günstige Gelegenheit, um Frankreich wieder als erste Macht auf dem Kontinent zu etablieren und von eigenen innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken. Großbritannien und Österreich standen den Ambitionen Nikolaus I. misstrauisch gegenüber und es bildete sich eine breite Koalition gegen Russland. Im Krimkrieg von 1853 bis 1856 unterlag Russland einer Allianz, die sich aus Großbritannien, Frankreich, dem Osmanischen Reich und dem Königreich Sardinien zusammensetzte; Österreich wendete sich ebenfalls gegen seinen ehemaligen Verbündeten, ohne direkt in den Krieg einzugreifen, und Russland, das lediglich von Preußen eine wohlwollende Neutralität erfuhr, sah sich weitgehend isoliert. Der Krieg wurde nicht nur auf der Krim selbst, sondern auch auf dem Balkan, in der Ostsee, im Weißen Meer, im Pazifik und im Schwarzen Meer ausgetragen. Im Krieg machte sich die Rückständigkeit Russlands unangenehm bemerkbar; trotz guter Resultate im Kampf war die Ausrüstung und Versorgungskraft des Landheeres mangelhaft, die Kaiserlich Russische Marine war veraltet und einer Kraftprobe mit der britischen Royal Navy nicht gewachsen. Russland musste der Neutralisierung des Schwarzen Meeres zustimmen[90] und verlor seine seit 1815 führende Stellung auf dem europäischen Kontinent an Frankreich. Das ehemals gute Verhältnis zu Österreich blieb zerrüttet.
Russischer Sturm auf die dagestanische Ortschaft (Aul) Himry, Gemälde von Franz Roubaud, 1891
In der Folge wandte sich Russland verstärkt Asien zu. Im Kaukasus begann 1856 die dritte und letzte Phase der russischen Expansion (vgl. Kaukasuskrieg (1817–1864)). Der Befriedung 1864 folgte die wirtschaftliche Erschließung und Russifizierung der 53 Völkerschaften und 14 Stämme unter Leitung des Kaukasischen Komitees.
Der russische Angriff auf Chiwa, Bild von Wassili Wassiljewitsch Wereschtschagin
Quasi nahtlos schloss sich an die Befriedung des Kaukasus die Expansion nach Zentralasien an. Russland dehnte hierbei im beginnenden Zeitalter des Imperialismus 1852–1888 sein Einflussgebiet auf Turkestan aus. Nach der russischen Expansionswelle gegen die Khanate Kasan, Astrachan und Sibir im 16. Jahrhundert war Russland an seinen südöstlichen Grenzen zunächst in Verteidigungsstellung gegangen, da es in anderen Gebieten stark in Anspruch genommen wurde. Vom Kaspischen Meer bis zum Altaigebirge wurde deswegen eine lange Linie von Kosakensiedlungen errichtet, deren Basen Orenburg, Petropawlowsk, Omsk, Semipalatinsk und Ust-Kamenogorsk waren und die Kasachen an Einfällen in das Wolgagebiet und Westsibirien hindern sollten.[91] Die Kasachen brachen aber häufig durch die russischen Linien und griffen die Siedlungen an. Ab den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts bemühte sich Russland schließlich um stabilere Grenzen. Durch die Beseitigung der Kleinen Horde 1822 und der Mittleren Horde 1824 wurde die kasachische Unabhängigkeit untergraben. In der Steppe wurden Grenzposten errichtet. Es folgten zunächst erfolglose Expeditionen gegen das Khanat Chiwa. In den 1840er Jahren wurden die Stützpunkte in die Steppe vorgeschoben. Russland drang nun in die Gebiete ein, die vom Khanat Kokand beansprucht wurden, aber praktisch unverteidigt waren.[92] 1853 wurde Kasalinsk erreicht, ein Jahr später Alma-Ata gegründet. Bedingt durch die Beanspruchung der Kräfte im Krimkrieg folgte eine Phase der Konsolidierung der gemachten Eroberungen. Um die Baumwollversorgung zu sichern – durch die Folgen des Amerikanischen Bürgerkriegs waren die Weltmarktpreise für den Rohstoff erheblich gestiegen – begannen 1864 erneute Operationen. Ein russisches Kontingent nahm im gleichen Jahr Dschambul, Jassy und Tschimkent ein. Mit diesem Feldzug eroberten die Russen das ganze Tschu-Tal und umschlossen die ganze Kasachensteppe in einem Ring von Forts. Am 11. Juli 1867 wurden die neu gewonnenen Gebiete in die Oblast Turkestan umgewandelt und einem Militärgouverneur unterstellt.[93] Danach wurde die Stadt Chodschent erobert, in dessen Folge sich der Khan von Kokand, Khudayar Khan, zum Vasall des Kaisers erklärte. Danach folgte ein neuer Feldzug gegen das Emirat von Buchara. 1868 nahmen die Russen Samarkand ein. Der Emir kapitulierte. Die erworbenen Gebiete wurden in das Generalgouvernement Turkestan eingegliedert.
Generalgouvernement Turkestan um 1900
1873 wurde schließlich das Khanat Chiwa erobert. Von den drei großen zentralasiatischen Staaten, die so zu russischen Vasallen wurden, blieb allein Kokand ein Unsicherheitsfaktor.[94] Nach einem erfolglosen Aufstand wurde dieses 1876 als Oblast eingegliedert. Auch im transkaspischen Gebiet südlich des Amurdarja hatte Russland bereits Fuß gefasst. 1881–85 wurde das Gebiet im Zug eines Feldzugs annektiert, u. a. kamen Aschgabat und Merw unter russische Kontrolle. Die südwärtige Expansion kam 1887 zum Stillstand, als mit dem Kontrahenten Großbritannien die afghanische Nordgrenze festgelegt wurde, die gleichzeitig als Demarkationslinie der Interessen- und Einflusssphären festgeschrieben worden war. Afghanistan wurde so zum Pufferstaat zwischen den beiden imperialen Mächten, was 1907 im Vertrag von Sankt Petersburg bekräftigt wurde (vgl. The Great Game). 1860 wurde am Pazifik Wladiwostok gegründet, als feste Ausgangsbasis für eine aktivere Politik Russlands im Fernen Osten.
Zeitalter der Reformen und beginnende Industrialisierung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Russische Bauern im Russischen Kaiserreich
Als Reaktion auf die in der Niederlage im Krimkrieg deutlich zutage getretene Rückständigkeit Russlands nahm Alexander II. (1855–1881) weitreichende Reformen in Angriff, deren wesentlichste Bestandteile die seit 1861 durchgeführte Aufhebung der Leibeigenschaft, Reformen im Justizwesen und eine neue Militärorganisation waren. Alexander setzte diese Reformen gegen große innere Widerstände durch. Die größten Reformnotwendigkeiten sahen Alexander II. und die russische Öffentlichkeit in der Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern. Der Kaiser beauftragte daher schon 1857 ein Komitee, Vorschläge zur Lösung des Bauernproblems auszuarbeiten. Dieses bestand hauptsächlich in der Leibeigenschaft der Bauern, die über 80 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Die Leibeigenschaft war, abgesehen vom Verfügungsrecht des Herrn über die Person des Bauern, mit vielfältigen Dienstleistungen für den adligen Grundbesitzer verbunden. Dieses System ließ weder Eigeninitiative noch soziale Veränderungen oder Mobilität noch effektivere und rationellere Bewirtschaftungsmethoden zu. Die Dienstleistung variierte dabei zwischen der einfachen Form eines Leibzinses (Obrok-Bauern in Weißrussland, der Ukraine, Woronesh und Kasan) und der oft willkürlichen Form des Frondienstes (Barschtschina-Bauern in Großrussland und in Westsibirien). Die einzigen, die die Leibeigenschaft abgeschüttelt hatten, waren die Kosaken, die ab dem 16. Jahrhundert aus der Leibeigenschaft in die unerschlossenen Gebiete des Ostens fliehen konnten. So kam diese Reform nur schleppend in Gang.
Die Produktion der wichtigsten Industrieprodukte zwischen 1887 und 1913 in Mio. Pud[95]
Produktart 1887 1900 1913
Gusseisen 36,1 176,8 283
Kohle 276,2 986,4 2215
Stahl und Eisen 35,5 163 246,5
Öl 155 631,1 561,3
Baumwolle 11,5 16 25,9
Zucker 25,9 48,5 75,4
Während Alexander I. noch die Hoffnung hatte, dass der Adel von sich aus und ohne Druck von oben die Bauern freilassen würde, war Alexander II. nach der Kriegsniederlage nicht mehr gewillt, auf die Bereitschaft des Adels zu warten, sondern ergriff selbst die Initiative. Nach fünf Jahren Beratungen wurde das Manifest über die Aufhebung der Leibeigenschaft am 2. März 1861 unterzeichnet. Dem Manifest folgte ein Gesetz, das die Landzuteilung an die Bauern regelte. Die Landanteile waren zu klein und wurden mit übergroßen Lasten belegt, da die Bauern die Entschädigung, die der Staat den Grundbesitzern gezahlt hatte, innerhalb von 49 Jahren an ihn zurückzahlen mussten. Ergebnis der Bauernbefreiung von 1861 war also, dass sich die Lage der Bauern eher verschärfte. Der entstehende Bevölkerungsüberschuss konnte nirgends anders aufgefangen werden, die Landwirtschaft arbeitete weiter am Rand der Existenzkrise, was sich in den immer wiederkehrenden Hungersnöten zeigt. Die alte Abhängigkeit der Bauern von den Grundbesitzern wandelte sich in eine neue Abhängigkeit durch drückende Schulden.
Erdöltanks in Baku im Jahr 1912
Das für die Industrialisierung notwendige Kapital konnte mit der Bauernbefreiung nicht freigesetzt werden. Auch die Adligen wurden nur zögernd Unternehmer. Der russische Staat konnte aus Mangel an Alternativen den wirtschaftlichen Rückstand nur dadurch überwinden, dass er selber eine kapitalistische Industriewirtschaft aufbaute, indem er von oben in das Wirtschaftsleben eingriff. Die Regierung gründete Staatsbetriebe und unterstützte Unternehmer finanziell. Der Staat beteiligte sich auch selbst an den Unternehmen oder gewährte Großbetrieben im Hüttenwesen und im Transportmaschinenbau Geldmittel und sorgte für den Absatz ihrer Produkte. Durch hohe Importzölle versuchte der Staat einheimische Unternehmer vor der Konkurrenz ausländischer Unternehmer zu schützen. Der Staat erneuerte das Kreditwesen, indem er Regierungsbanken ins Leben rief und damit die Voraussetzung für den Import westlichen Kapitals. So wurde 1860 die Staatsbank gegründet. Vom ausländischen Kapital profitierte vor allem der Eisenbahnbau. 1857 wurde mit Hilfe ausländischen Kapitals die Hauptgesellschaft der russischen Eisenbahn gegründet. Von 960 Streckenkilometer stieg das russische Streckennetz bis 1880 auf 21.800 Kilometer an. Mitte der 1880er und 90er Jahre verstaatlichte Russland die meisten Eisenbahnen, die die entstehenden Industriezentren mit den Eisen- und Kohlerevieren, sowie mit den zentralen Agrarregionen und den Ausfuhrhäfen an der Ostsee und am Schwarzen Meer verbanden. Auf diese Weise wurde die wirtschaftliche Erschließung des Landes und die Bildung eines großen Binnenmarkts erst möglich. Mit dem Eisenbahnbau wurden gleichzeitig die Schwerindustrie und der Maschinenbau angetrieben, die zu zentralen Bereichen der Industrialisierung wurden. Seit der zweiten Hälfte der 1880er Jahre erfolgte ein rascher industrieller Aufschwung. die durchschnittlichen Wachstumsraten lagen bei sechs Prozent, in den 1890er Jahren bei acht Prozent.[96] Sogar in der Landwirtschaft stieg die Getreide- und Kartoffelproduktion jährlich um über zwei Prozent. Trotz der Industrialisierung blieb Russland ein Agrarland. Um 1900 trug die Landwirtschaft mit 53 Prozent zum Nationaleinkommen, die Industrie mit 21 Prozent bei. Auch die Arbeiter behielten oft ihre bäuerliche Lebensweise bei und lebten in Arbeiterdörfern um die neu entstandenen Industrieansiedlungen herum. Die Industrie konzentrierte sich besonders in Sankt Petersburg und Moskau, in der Ukraine und in den Ölgebieten Transkaukasiens.
Da mit der aufgehobenen Leibeigenschaftsordnung auch staatliche Funktionen des Grund besitzenden Adels verbunden waren, musste auch das Verwaltungs- und das Gerichtswesen in der Provinz neu geordnet werden. Die Justizreform von 1864 führte dieselben Rechtsnormen ein, die auch im Westen herrschten: Rechtsgleichheit, Trennung von Justiz und Verwaltung, Unabhängigkeit der Richter. Die Verwaltungsreform vom selben Jahr schuf Selbstverwaltungsorgane auf Kreis- und Gouvernementsebene, die 1870 durch solche in den Städten ergänzt wurden. Von weiterer Bedeutung waren die Militärreformen. Gleich zu Beginn seiner Herrschaft schaffte Alexander II. die Militärsiedlungen ab und reduzierte die Dienstzeit. Zudem wurde auf Grundlage der am 1. Januar 1874 neu geschaffenen Wehrpflicht die Armee in ein modernes Massenheer umgewandelt. Die Bildungsinstitute erhielten Autonomie, auch die Presse erhielt Zensurerleichterungen. Auf Grundlage dieser Freiheiten konnte sich eine Opposition radikalisieren, die vom europäischen Ausland stark unterstützt wurde.[97] Das revolutionäre Potential, das schon im Dekabristenaufstand von 1825 deutlich wurde, erhielt durch die langsamen Veränderungen immer neue Verstärkung. Es blieb aber nicht bei einer begrenzten Übernahme von Elementen der europäischen Kultur, sondern es setzte eine Radikalisierung der Opposition ein. Statt Abschaffung der Leibeigenschaft forderten sie den Sozialismus, statt Verfassung Anarchie, statt Lösung des Nationalitätenproblems Kosmopolitismus, statt Gewissensfreiheit Atheismus. Dadurch befürworteten diese Gruppen auch Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele. Die einzelnen revolutionären Gruppen unterschieden sich dabei sehr, sowohl in der Herkunft als auch in der Ausprägung ihres Ideengutes (vgl. Russischer Nihilismus). So hatten sich Ende der 1860er Jahre zwei politische Richtungen herauskristallisiert:
Aufrührer (buntari): Diese folgten den Ideen Michail Alexandrowitsch Bakunin, dem Vater des russischen Anarchismus
Vorbereiter (podgotowiteli): Sie folgten Pjotr Lawrowitsch Lawrow, der die Narodnikibewegung schuf. Diese kleine Gruppen versuchten die Umgestaltung Russlands auf anderen Wegen, in geduldiger Aufbauarbeit, zu erreichen. Nach den Enttäuschungen über die ergebnislose friedliche Agitation und nach zahlreichen Verhaftungswellen der 1870er Jahre bildete ein Teil der Narodniki 1879 die Geheimgesellschaft Narodnaja Wolja (Volkswille), welche die Ermordung (1881) Alexander II. organisierte.
Ihm folgte sein Sohn als Alexander III. nach, der, auch durch die Ermordung seines Vaters beeinflusst, einen reformfeindlichen Kurs einschlug und autokratisch regierte. Dabei stützte er sich vor allem auf die Armee und auf die Geheimpolizei, die Ochrana. Die Armee nahm im Inneren Russlands traditionell auch Polizeiaufgaben wahr. Die revolutionäre Bewegung wurde immer schwächer.
Russland im Zeitalter des Imperialismus[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Bauarbeiten an der Transsibirischen Eisenbahn
Nach dem Türkisch-Russischen Krieg 1877–1878, in dessen Verlauf Russland die Unabhängigkeit Bulgariens vom Osmanischen Reich erreichte, verbreitete sich die Idee des Panslawismus, also der Vereinigung der slawischen Völker unter russischer Herrschaft. Diese Ideen waren nicht neu, aber jetzt fanden sie durch eine national gesinnte Presse und Agitatoren zunehmend Gehör in Russland. Auf dem Berliner Kongress erlitt Russland jedoch einen Rückschlag, denn die Schaffung eines Groß-Bulgarien, wie sie Russland anstrebte, traf auf heftige Opposition Großbritanniens und Österreich-Ungarns, die einen Durchbruch Russlands an die Adria unbedingt unterbinden wollten.
Von 1891 bis 1901 wurde die Transsibirische Eisenbahn zwischen Wladiwostok und Tscheljabinsk gebaut, die den Westen und den Osten des Reiches miteinander verbinden sollte; auch die Besiedlung Sibiriens wurde hierdurch begünstigt. 1896 erhielt Russland durch den Bau einer Abzweigung, der Transmandschurischen Eisenbahn, Einfluss auf die Mandschurei, was aber zu kollidierenden Interessen mit Japan führte; beide suchten sich auf Kosten Chinas zu vergrößern.
So kam es 1904–1905 zum Russisch-Japanischen Krieg. Japan, seit 1902 Bündnispartner Großbritanniens, attackierte den russischen Stützpunkt Port Arthur ohne vorherige Kriegserklärung und versenkte einen Teil des russischen Fernostgeschwaders. Am 13. April kam es zu einer ersten Seeschlacht, die mit dem Sieg der Japaner endete. Diese besetzten nun die Höhen um die Festung Port Arthur und begannen mit der Belagerung. Von den Höhen aus nahmen sie auch die russischen Schiffe unter Feuer; im August versuchte die Restflotte einen erneuten Durchbruch. Es kam zu einer weiteren Seeschlacht, in der die restlichen russischen Schiffe versenkt wurden. Der Zar war jedoch uneinsichtig und noch nicht zu einem Frieden bereit, den auch weite Kreise, von Großindustriellen bis zu den Militärs, in Russland forderten. Nachdem die Russische Ostseeflotte die halbe Welt umrundet hatte, kam es am 14.–15. (27.–28.) Mai 1905 bei Tsushima in der Meerenge von Korea und Japan zur Schlacht mit der japanischen Flotte unter Admiral Tōgō Heihachirō. Erneut unterlag die russische Flotte der japanischen, und nachdem die Festung Port Arthur von den Japanern erobert worden war, musste Russland einem von US-Präsident Theodore Roosevelt vermittelten Frieden zustimmen, der am 23. August (5. September) 1905 in Portsmouth, New Hampshire, unterzeichnet wurde. Die Niederlage wurde als Sensation empfunden, denn erst zum zweiten Mal (nach der italienischen Niederlage in Äthiopien 1896) war eine europäische Nation gegen eine außereuropäische unterlegen. Wiederum zeigte sich die Rückständigkeit Russlands.
Europäisches Russland um 1888
Durch ausgebliebene innenpolitische Reformen und den Konflikt zwischen Anhängern einer Annäherung an den Westen (Westler) und Gegnern einer solchen Annäherung (Slawophile) geriet Russland wirtschaftlich immer mehr ins Hintertreffen gegenüber den anderen Großmächten. Die Korruption im Land war weit verbreitet und höher als in den westlichen Ländern. Zudem war die starke Zentralisierung des Staates nicht immer von Vorteil. In Moskau und Sankt Petersburg, aber auch in anderen russischen Städten entstanden Kreise von Intellektuellen, Kommunisten und Anarchisten. Sie wurden von Zar Alexander III. brutal verfolgt. Sein Nachfolger, Nikolaus II., behielt die Politik seines Vaters bei. Hinzu kamen soziale Probleme, die im Zuge der Industrialisierung des Landes entstanden, sowie eine Hungersnot im Jahre 1890. 1898 wurde die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (Vorgängerin der Kommunistischen Partei Russlands) gegründet, in welcher ab 1903 die Bolschewiki unter Lenin die Führung übernahmen. Die Niederlage Russlands im Russisch-Japanischen Krieg verstärkte die Unzufriedenheit nur noch und es kam zu großen Demonstrationen. Nach dem Petersburger Blutsonntag 1905 fand von 1905 bis 1907 eine erfolglose Revolution in Russland statt, die jedoch dem Zaren die Unzufriedenheit im Land zeigte. Zar Nikolaus II. rief unter anhaltendem Druck ein Parlament, die Duma, zusammen, die er jedoch wiederholt auflösen ließ. Dazu wurde eine Verfassung ausgearbeitet, das Staatsgrundgesetz des Kaiserreichs Russland. Die Duma wird in der Geschichtswissenschaft teilweise als Scheinparlament bezeichnet.
Eröffnung der Duma 1906
Der unheimliche Sommer 1917, Datsche bei Moskau
Außenpolitisch war Russland nach der 1890 vom Deutschen Kaiser Wilhelm II. verweigerten Verlängerung des Rückversicherungsvertrages 1892 ein Bündnis mit Frankreich eingegangen. Nach der Niederlage im Fernen Osten richtete Russland wieder seine Aufmerksamkeit auf Europa und den Balkan. Russland war nach dem verlorenen Krieg jedoch extrem geschwächt und musste zusehen, wie Österreich-Ungarn mit Rückendeckung des Deutschen Reiches 1908 Bosnien-Herzegowina annektierte. Die Spannungen auf dem Balkan nahmen immer weiter zu, denn das Osmanische Reich, „der kranke Mann am Bosporus“, war zunehmend im Zerfallen begriffen. 1907 schloss Russland ein Übereinkommen mit Großbritannien, in dem die Streitigkeiten in Asien ausgeräumt und die gegenseitigen Interessensphären festgelegt wurden. Es kam in Europa zu einem Rüstungswettlauf. Die allgemeine Lage verdüsterte sich zunehmend und ein großer europäischer Krieg wurde immer wahrscheinlicher.
Russische Soldaten marschieren an die Front
Im August 1914 brach der Erste Weltkrieg aus. Russland stand als Verbündeter Serbiens, Frankreichs und Großbritanniens gegen das mächtige Deutsche Reich, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich. Nach einigen Erfolgen vor allem in Galizien erlitt Russland mehrere schwere Niederlagen gegen die deutsche Armee; Polen und das Baltikum gingen verloren. Den Oberbefehl im Hauptquartier übernahm aufgrund der Niederlagen der russischen Armeen Nikolaus II. am 9. September. Doch nach zwei Jahren stand Russland vor dem wirtschaftlichen und militärischen Zusammenbruch.
Im März 1917 kam durch die Februarrevolution das Ende der Autokratie. Eine Provisorische Regierung wurde eingesetzt. Da das Deutsche Kaiserreich die Lage Russlands destabilisieren und den Krieg im Osten beenden wollte, gelangte der bisher im Exil lebende Lenin nach Petrograd, wo es im Oktober zur kommunistischen Oktoberrevolution kam. Die Hauptstadt Russlands wurde zurück nach Moskau verlegt. Polen, Finnland, das Baltikum und vorübergehend auch Weißrussland sowie die Ukraine wurden unabhängig. Das Hauptquartier nahm gegenüber den Bolschewiki eine feindliche Haltung ein, und am 7. November wandte es sich mit einem Aufruf an die Armee, gegen die Bolschewiki zu kämpfen. Am 3. Dezember 1917 wurde das Hauptquartier von revolutionären Kräften eingenommen und aufgelöst.
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